Europa und die Flüchtlinge:Ein Grieche aus Istanbul

Petros Markaris

Petros Markaris, geboren 1937 in Istanbul, besuchte das St. Georgs-Kolleg in Istanbul und studierte in Wien und Stuttgart. Er war lange türkischer Staatsbürger und lebt seit vielen Jahren als Schriftsteller in Athen.

(Foto: Peter Endig/dpa)

Seit dem 19. Jahrhundert sind die Griechen Auswanderer und Einwanderer zugleich: Ich bin als Grieche in Istanbul aufgewachsen.

Von Petros Markaris

Ich komme aus einem Land, das im Laufe seiner neueren Geschichte immer ein Ein- und ein Auswanderungsland war. Nur waren die ersten Einwanderer keine Ausländer, sondern Griechen der Diaspora. Diese griechischen Einwanderer waren fast immer die Opfer falscher Politik. Der lange Marsch nach Griechenland begann im Jahr 1922 nach dem "Kleinasien-Desaster". So nennt man in der griechischen Geschichte die wahnsinnige Idee der damaligen Regierung, Kleinasien zu erobern. Die Niederlage der Armee löste einen Flüchtlingsstrom aus. Viele Griechen, vor allem aus der Gegend von Izmir und der Ägäis-Küste der Türkei, verließen ihr Land und ihre Häuser und zogen nach Griechenland.

Die große Welle kam aber erst zwei Jahre später, nach dem Völkeraustausch zwischen Griechenland und der neu gegründeten Republik Türkei. Die Griechen aus Kleinasien und von der Schwarzmeerküste zahlten den bitteren Preis für die Normalisierung der griechisch-türkischen Beziehungen. Die Flüchtlinge waren für die einheimische Bevölkerung eine Last. In den Dörfern zeigte man ihnen die kalte Schulter. Viele Schiffe, die Einwanderer nach Griechenland brachten, mussten von einem Hafen in den anderen fahren, weil die Bewohner die Häfen besetzten und den Ausstieg der Einwanderer verhinderten.

Das war weder ein Reflex des Rassismus noch der Fremdenfeindlichkeit. Das Land lag in Scherben, die einheimischen Griechen kämpften täglich um ihr Überleben. Sie konnten ihr karges Brot nicht mit Neuankömmlingen teilen. Es reichte nicht einmal für sie und ihre Kinder. Zugleich aber war Griechenland bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Auswanderungsland. Die Griechen gingen in die USA, nach Australien und Kanada. In den Fünfzigerjahren gab es eine neue Auswanderungswelle, weil das Land nach dem Zweiten Weltkrieg und dem darauf folgenden Bürgerkrieg völlig ruiniert war. Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre wurde Deutschland das gesegnete Land für Auswanderer.

Sowohl die vertriebenen Griechen im Jahr 1922 als auch die Opfer des Völkeraustauschs von 1924 kamen in ein von der Krise hart getroffenes Land, das verbindet sie mit den Flüchtlingen von heute. Dennoch werden die Flüchtlinge heute viel freundlicher behandelt als die griechischen Einwanderer der Zwanziger. Grund dafür ist, dass in vielen Ortschaften die Mehrheit der Bevölkerung aus ehemaligen Einwanderern besteht. Das gilt besonders für Mytilini auf Lesbos. Der Schrecken von damals lebt als Narrativ in den Familien weiter. Griechen der jüngeren Generation haben Mitleid mit den Flüchtlingen, weil sie wissen, wie ihre Vorfahren gelitten haben.

Ich bin als Kind eines Istanbuler Armeniers und einer Istanbuler Griechin in Istanbul geboren und in einer Minderheit aufgewachsen. Istanbul war während meiner Kindheit und meiner Jugend eine Stadt von Minderheiten. Es gab die griechisch-orthodoxe, die armenisch-gregorianische und die jüdische Minderheit. Ich erinnere mich auch heute noch an das Sprachgewirr, als ich täglich durch die Istiklal-Straße spazierte, die damalige zentrale Einkaufsstraße Istanbuls. Ich hörte gleichzeitig Türkisch, Griechisch, Armenisch, sephardisches Jüdisch, aber auch Französisch und Italienisch.

Das multiethnische Zusammenleben in Istanbul begrenzte sich auf das Straßen- und Geschäftsleben. Das Privat- und Familienleben der Minderheiten spielte sich in voneinander getrennten Stadtteilen ab. Das St. Georgs-Kolleg liegt im Stadtteil Kuledibi. Er war in den Vierziger- und Fünfzigerjahren ein fast ausschließlich jüdisches Viertel, rund um den Galata-Turm. Als ich in das St. Georgs-Kolleg ging, hörte ich täglich neben Türkisch fast nur noch das Ladino, das sephardische Jüdisch. Im Stadtteil Kurtulus, wo meine Familie wohnte, sprach man außer Türkisch überwiegend Griechisch und zum Teil auch Armenisch. So erging es vielen Stadtvierteln.

Balat am Goldenen Horn war ein jüdisches Viertel, Fener auf der anderen Seite des Goldenen Horns, wo das Ökumenische Patriarchat seinen Sitz hat, ein griechisches. Auch in den gemischten Vierteln, in denen wie in Samatya oder Bakirköy Armenier und Griechen lebten, gab es kein gemeinsames Leben. Die Griechen kauften bei armenischen Geschäften ein und umgekehrt, sie begrüßten sich, fragten nach der Familie und den Kindern, aber nach Geschäftsschluss gingen Armenier und Griechen ihre eigenen Wege. Jede Minderheit verteidigte vehement ihre Sprache, ihre Werte und Traditionen, die sie in der Religion verschmolzen und verankert sah. Die einzige Ausnahme in Bezug auf die Sprache sind die Juden, die das sephardische Jüdisch nach und nach aufgaben und das Türkische übernahmen.

Sowohl die Gesellschaft, in der ich in Istanbul aufgewachsen bin, als auch die heutigen Gesellschaften sind keine "multikulturellen", sondern "multikommunale" Gesellschaften mit mehreren Gemeinden, die getrennt leben, ihre eigene Religion, Sprache und Tradition behalten wollen und eine Mischkultur oder Multikultur ablehnen. Um es grob zu sagen: Sie wollen von der Kultur der Mehrheit, die für sie auch die herrschende Kultur ist, nicht angesteckt werden. Das ist nicht unbedingt als ein Zeichen der Arroganz zu verstehen, sondern vielmehr als ein Zeichen der Angst und Unsicherheit.

Das Kopftuch, das viele junge Musliminnen in Deutschland tragen, ist nicht nur ein Symbol der religiösen Zugehörigkeit, sondern auch, ja sogar vielmehr, ein Symbol der Zugehörigkeit zu einer anderen Kultur, zu einer anderen Lebensweise. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren, als der Zypernkonflikt zwischen Griechenland und der Türkei seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurden die Istanbuler Griechen, wenn sie öffentlich griechisch sprachen, von den Türken ermahnt: "Mitbürger, du bist in der Türkei. Du solltest türkisch sprechen!" Die Griechen waren zu Recht empört. Warum durften sie öffentlich nicht ihre Sprache sprechen?

1964 wurden die Istanbuler Griechen, wieder wegen des Zypernkonflikts, von der Türkei ausgewiesen. Fast alle kamen nach Athen und wählten als Domizil Paleon Faliron, einen Stadtteil am Meer. Viele dieser Griechen sprachen öffentlich türkisch miteinander und nicht griechisch. Die Griechen waren zu Recht empört. Wieso sprachen sie nicht griechisch, sondern die Sprache des Landes, das sie ausgewiesen hatte? Die Antwort ist einfach. Sie wollten zeigen, dass sie anders sind und sich von der Mehrheit unterscheiden. In Istanbul taten sie es öffentlich mit Griechisch, in Griechenland mit Türkisch.

Aus diesen Beispielen ergibt sich die Frage: Gibt es überhaupt einen Weg in die Integration? Die allererste Voraussetzung ist die Sprache. Ohne Kenntnis der Landessprache kann es keine Integration geben. Das ist die erste Regel, die der Gast - ob Flüchtling oder Migrant - verinnerlichen sollte. Es folgt darauf die einfache Integration, "die Integration des Überlebens". Das ist die Integration am Arbeitsplatz und im Geschäftsleben. Je besser ein Migrant die Sprache beherrscht, desto höher stehen seine Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden und voranzukommen. Die zweiten Generationen, die Flüchtlings- und Migrantenkinder, haben es leichter. Ich lebe in Athen in einem Stadtteil, in dem viele französischsprachige Afrikaner leben. Ich sehe oft auf der Straße Gruppen von griechischen Kindern und Migrantenkindern miteinander. Wenn ich die Augen schließen würde, dann könnte ich nicht sagen, welche von diesen Kindern Griechen und welche Afrikaner sind. So perfekt beherrschen die Migrantenkinder die griechische Sprache.

Ich frage mich, ob diese Schülerinnen und Schüler wechselseitig in die Wohnungen der anderen eingeladen werden. Meine Erfahrung stimmt mich pessimistisch. Ich habe die acht Jahre meines Gymnasialstudiums im österreichischen St. Georg-Kolleg auf derselben Schulbank mit türkischen Jungen verbracht. Wir gingen zusammen spazieren, ab und zu auch ins Kino, aber in diesen acht Jahren hat mich kein türkischer Schulfreund zu sich eingeladen. Und ich habe in diesen acht Jahren keinen einzigen türkischen Schulfreund zu mir nach Hause eingeladen.

Was hat ein Sizilianer mit einem Bayern gemeinsam, außer dass sie beide katholischen Glaubens sind?

Neben der "Tagesintegration", also der Integration am Arbeitsplatz, im Geschäftsleben und in der Schule, gibt es eine "Abend-und-Feierabend-Integration" sowie eine "Sonntags-und-Feiertage-Integration". Hier beginnen die Schwierigkeiten, sowohl auf Seiten der Gäste als auch der Gastgeber. Fangen wir mit den Gästen an. Immer wieder höre ich die Klage, dass die Einwanderer in Enklaven leben und den Kontakt mit der Mehrheit vermeiden. Das ist wahr, aber es gibt dafür gute Gründe. Die Einwanderer kommen in ein fremdes, ihnen unbekanntes Land. Es ist einleuchtend, dass sie ihre Landsleute suchen, weil sie ihre Angst und Verunsicherung überwinden wollen.

Immer wenn ich das Wort "Islam" mit großen Anfangsbuchstaben lese, ist mir zum Heulen, denn wir glauben, alle Muslime seien gleich, nur weil sie denselben Glauben haben. Bevor ich freischaffender Schriftsteller wurde, habe ich vierzehn Jahre lang als Exportleiter in einer griechischen Zementfirma gearbeitet. Mit Ausnahme von Iran, Jemen und Mauretanien kenne ich alle islamischen Länder. Ich kann Ihnen versichern, dass es zwischen den Menschen und den Völkern dieser Länder enorme Unterschiede gibt.

Das ist mit den Christen nicht anders. Was hat ein Sizilianer mit einem Bayern gemeinsam, außer dass beide katholischen Glaubens sind? Trotz dieser Erklärungen ist es eine Priorität, dass die Einwanderer sich von der Ausgrenzung und von der Ghetto-Mentalität befreien. Das ist aber ohne das Mitwirken der Gastgeber nicht möglich. Hier beginnen die Probleme der Alltagsintegration. Seien wir ehrlich: Auch die Gastgeber wollen die Ausgrenzung der Gäste. Wenn sie mit ihnen unbedingt in derselben Stadt leben müssen, dann, bitte, so weit weg wie möglich. Auch die Ordnungskräfte des Staats sind mit der Ausgrenzung zufrieden. Wenn die Einwanderer in Enklaven leben, dann sind sie leichter zu überwachen. Das ist die mildere Ausgrenzung. Die härtere, das sind die Zäune und die Mauern.

Seien wir weiter ehrlich. Es gibt nicht nur eine herrschende Ideologie, es gibt auch eine herrschende Zivilisation. Und die westliche Zivilisation ist seit der Kolonialzeit die herrschende. So wie die westlichen Länder und Imperien die Bewohner dieser Länder mit Hilfe von Missionaren zum Christentum konvertieren und sie dadurch angeblich zivilisieren wollten, so ähnlich stiftet der Westen heute Kriege wie im Irak und in Libyen an, um angeblich die Diktatoren in diesen Ländern zu beseitigen und die Demokratie einzuführen, als ob die Demokratie ein Exportartikel wäre. Wenn wir heute den IS und den Terrorismus brandmarken, sollten wir bedenken, wie weit wir, als Mitglieder der westlichen Zivilisation, bei der Entstehung des IS und des islamischen Terrorismus indirekt mitgewirkt haben.

Das Fundament des Zusammenlebens ist die gegenseitige Akzeptanz. Die Voraussetzung für Herrschaft ist der Untertan. So sehen sich auch die Flüchtlinge: als Untertanen in einem fremden Land. Deswegen suchen sie Zuflucht in den Gemeinschaften ihrer Landsleute. Nur dort fühlen sie sich gleichwertig. Es ist ein schwieriges Problem. Dessen Lösung wäre aber nicht so kompliziert, wenn alle Länder der EU bereit wären, an einer gerechten Verteilung der Flüchtlinge teilzunehmen. Wenn Deutschland eine Million Flüchtlinge aufnimmt und Schweden hundertfünfzigtausend, und die Zahl bei anderen Ländern unter fünfzig liegt, dann ist das Problem nicht lösbar. Das Problem wird unlösbar bleiben, solange wir nicht einsehen wollen, dass auch die Flüchtlinge ihre eigene Zivilisation und ihre eigenen Werte und Prinzipien haben, und wir nur in gegenseitigem Respekt zusammenleben können.

Die Rede, die wir hier in gekürzter Fassung bringen, hielt Petros Markaris in dieser Woche auf der Konferenz "Europa und das Mittelmeer in Zeiten der Migration" in Berlin.

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