Europa und der Islam:Um Gottes Willen

Steht das Ende des europäischen Christentums bevor? Werden Christen neben einem brutalen Islam bald die verachtete Minderheit sein? Eine Prophezeiung.

Philip Jenkins

"Das muss ein ziemlich kurzes Buch werden", sagen meine Kollegen immer, wenn ich ihnen davon erzähle, dass ich über Religion im Europa der Gegenwart schreibe. In Nordamerika und weiten Teilen Europas glauben viele Menschen an das baldige Ende des europäischen Christentums. In den voreiligen Nachrufen wird fast immer ein brutaler Islam erwähnt. Den halten viele Kommentatoren für die erschreckende, neue Realität. Vor allem unter konservativen Amerikanern ist die Ansicht, dass sich Europa in "Eurabien" verwandelt, weit verbreitet. Damit meinen sie einen Kontinent, in dem Christen als verachtete Minderheit neben einer muslimischen Mehrheit leben werden - so wie es in vielen Regionen des Mittleren Ostens bereits an der Tagesordnung ist.

Dabei sieht die Zukunft vermutlich ganz anders aus. In den meisten Teilen Europas sind die christlichen Traditionen überraschenderweise stärker denn je - ausgerechnet auf einem Kontinent, den man lange für einen Sumpf verschiedenster Glaubensrichtungen hielt. Doch obwohl unzählige Statistiken den Verfall von formal festgelegten religiösen Riten und den Abfall von den staatlich anerkannten Kirchen beweisen, kann man deutliche Hinweise für ein neues Wachstum der Religion entdecken. Das hat viel mit Europa selbst zu tun, liegt aber auch an seinen neu eingewanderten Bevölkerungsgruppen. Europa hat in der Vergangenheit deutlich gezeigt, dass der Kontinent ein Entwicklungslabor für neue Glaubensrichtungen, neue religiöse Strukturen und Interaktionsprozessen sein kann.

Zwischen den Trümmerhaufen

Diese Dynamik sorgt dafür, dass sich Religionen an ein säkular dominiertes Umfeld anpassen können. Das ist wichtig, denn sowohl das Christentum als auch der Islam werden - wenn sie in ihrer bekannten, historischen Ausrichtung verharren - große Schwierigkeiten haben, in Europas säkularem Milieu zu überleben. Aber anstatt still und leise zu verschwinden, haben sich beide Religionen auf eine Art "Eurosäkularität" (Peter Berger) eingelassen. Dieser Anpassungsprozess läuft noch immer.

Egal ob Protestanten, Katholiken oder Orthodoxe - die Menschen in Europa haben sich in den letzten 40 Jahren weit von den traditionellen Mustern und Regeln des religiösen Lebens entfernt. Im Westen Europas ist die Anzahl der Kirchgänger stark zurückgegangen, außerdem sind die Anzahl der Ordinationen und die Zahl der Priesterseminare stark geschrumpft. Im Gegensatz dazu bewahrten osteuropäische Länder, zum Beispiel Polen und die Slowakei, ihre alte Leidenschaft für die Religion. Aber zwischen den Trümmerhaufen der Religion kann man Zeichen von Glauben finden wie etwa die gigantische Bereitschaft von Europäern aller Altersklassen, christliche Massenveranstaltungen zu besuchen. Man denke nur an den Weltjugendtag, der von der katholischen Kirche organisiert wird.

Ein weiteres markantes Merkmal des heutigen Glaubens ist eine leidenschaftliche, fast mittelalterlich zu nennende Hingabe, der viele Europäer verfallen sind: Man pilgert wieder. Die religiösen Wanderungen erfreuen sich ähnlich großer Beliebtheit wie im 14. Jahrhundert. Alte Schreine wurden wiederbelebt, viele neue sind zusätzlich ausgestellt worden. Natürlich stellt sich die Frage, ob diese Millionen von Besuchern wirklich spirituell motivierte Pilger sind oder eher normale Touristen. Aber genau die gleichen Zweifel kann man auch bei den Pilgern des Mittelalters formulieren. Außerdem behaupten viele Teilnehmer von sich selbst, die Wanderungen würden ihren Glauben kräftigen.

In Eurabien

Den Kirchgang selbst erachten viele Europäer nicht mehr als notwendig. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie ihre christlichen Wurzeln verleugnen würden. Trotz der offensichtlichen Säkularisierung ihrer Gesellschaft sagen sechzig bis siebzig Millionen westeuropäischer Christen, dass Religion in ihrem Leben eine große Rolle spiele. Deshalb ist es eigenartig, dass Kommentatoren wegen der Präsenz von rund 15 Millionen Moslems die Drohkulisse "Eurabien" beschwören, anstatt ihre Aufmerksamkeit einer christlichen Phalanx zu schenken, die um ein Mehrfaches größer ist.

Neben dem harten Kern der bekannten Gläubigen bezeichnen sich außerdem Millionen von Europäern als Christen, obwohl sie selten eine Kirche betreten. Selbst im säkularen England bezeichnen sich 72 Prozent bei ihrer Steuererklärung als Christen, das sind immerhin 35 Millionen offiziell registrierte Gläubige. Während der Religions-Debatten der letzten Jahre - besonders während der Mohammed-Karikaturen-Affäre - hat die Aussicht auf einen größer werdenden Islam viele "lauwarme" Christen dazu gebracht, sich über das, was im klassischen Europa vielleicht verschwinden könnte, Gedanken zu machen.

Für manche von ihnen führte dieser Denkprozess zu einer Wiederentdeckung ihrer europäisch-christlichen Wurzeln. Dabei haben manche von ihnen vor noch nicht allzu langer Zeit sämtliche religiösen Einflüsse auf die Gesellschaft rundum abgelehnt.

Um Gottes Willen

Die Kirchen haben unterdessen viel dafür getan, um sich einer Gesellschaft, in der überzeugte Christen in der Minderheit sind, anzupassen. Diese Minderheit versucht sich wie "die Hefe im Teig der Gesellschaft" zu verhalten. Dass soviel weniger Menschen in die Kirche gehen als früher, hat dabei vor allem die alten Nationalkirchen getroffen. Die haben lange versucht, alle Menschen innerhalb eines bestimmten Landes einzugliedern. Doch sobald es nicht mehr möglich ist, jeden Einzelnen einzubinden, schrumpft die Kirche nicht nur. Sie wird zu einer Gemeinde, die sich viel stärker zu einer personengebundenen Heiligkeit ("personal holiness") und zum Strukturwandel ihrer Organisation bekennen kann.

Der Einschnitt kann also Stärke bedeuten. Je tiefer er geht, umso stärker wird die Kirche.

Die Folgen zeigen sich vor allem in Bewegungen, die innerhalb des europäischen Katholizismus in den letzten vier Jahrzehnten zu starken Strömungen wurden, etwa die katholische Laienorganisation Focolare oder die Bewegung Neocatechumenate. Ähnliches finden wir bei den ehemaligen protestantischen Landeskirchen. Evangelikale und charismatische Gemeinden sind die bei weitem aktivsten Flügel der heutigen englischen Kirche, wobei sie den Stil amerikanischer Mega-Kirchen nachahmen.

Islamisiertes Europa?

In Europa wird nicht nur der Fehler gemacht, das Christentum abzuschreiben. Auch die Überbewertung der muslimischen Präsenz und ihres Wachstums führt zu einem Zerrbild. Derzeit haben die Nationen Westeuropas einen muslimische Populationsanteil von ungefähr 4,3 Prozent. Aus amerikanischer Sicht wirkt das sehr klein. Selbst wenn man extrem großzügig schätzt, wird die von Moslems abstammende Bevölkerung im Europa des Jahres 2050 nur bei 15 Prozent liegen. Und es ist mehr als unwahrscheinlich, das sie alle ihrem Glauben streng folgen, ihn konsequent praktizieren oder ihn gar radikal und extremistisch auslegen werden.

Bis dann werden moslemische Gemeinden längst die Ansprüche europäischer Säkularität, des Feminismus und des Individualismus zu spüren bekommen haben. Die Geburtenraten der moslemischen Bevölkerung in Europa sind bereits heute gesunken. Sie nähern sich den Zahlen der älteren, christlich geprägten Bevölkerung an. Dieser Trend wird auch weiterhin anhalten.

Interessanterweise haben europäische Sozialmodelle auch einen entscheidenden Einfluss auf Nationen im Mittleren Osten: zum Beispiel auf Algerien, Marokko, Tunesien, die Türkei oder den Iran, wo die Geburtsraten in den letzten zwanzig Jahren drastisch gesunken sind. Der Rückgang wird in den kommenden Jahrzehnten zu viel größerer sozialer und politischer Stabilität in der Region führen. Diese entstehenden, stabileren Gesellschaften sind ein weiteres Argument gegen die Vision eines "islamisierten" Europas.

Außerdem hat die Einwanderung neben dem Wachstum der moslemischen Bevölkerung auch zu einem Wachstum der christlichen Bevölkerung beigetragen. In ganz Europa, Afrika und Asien haben Christen lebendige neue Kirchengemeinden und Gemeinschaften gegründet: Nigerianische Pastoren und Evangelikale sind da nur ein Beispiel. An einem typischen Tag in London ist die Hälfte der Kirchgänger entweder afrikanischer oder karibischer Herkunft. Vier von Großbritanniens zehn größten Megakirchen werden von Afrikanern geleitet.

Neue christliche Erfolgsgeschichten

Andere Einwanderungs-Nationen schreiben ebenfalls neue christliche Erfolgsgeschichten. So haben zum Beispiel afrikanische Christen die Präsenz der Protestanten in Frankreich enorm gestärkt. Eine besondere Rolle spielten dabei Kongolesen. Im Großraum Paris gibt es beispielsweise über 250 protestantische Kirchen mit schwarzafrikanischem Einschlag.

Die aktuellen Debatten über Ethik und Religion sind von einer Konzentration auf arme Gebiete wie die Banlieues gekennzeichnet. Diese Gebiete sind bekannt für ihre Unruhen und einen Mangel an funktionierenden Sozialstrukturen. Für gewöhnlich werden diese Bereiche im Zusammenhang mit den muslimischen Immigranten genannt. Zugleich sind dort aber auch viele christliche Gruppierungen aktiv.

Auch Deutschland hat mindestens 1100 fremdsprachige evangelische Kirchen, die wiederum Ableger in ihren - meist afrikanischen - Mutterländern gründen. Als Beispiel mag die Christian Church Outreach Mission dienen, die 1992 in Hamburg gegründet wurde. Sie hat mittlerweile ein Dutzend Kirchen in Deutschland und über sechzig in Ghana. Das sind die überraschenden neuen Seiten des zeitgenössischen Europäischen Christentums.

Vielleicht wird das Europa der Zukunft nichts mit dem staatsprägenden christlichen Konsens der fünfziger Jahre gemein haben. Aber diese Feststellung bedeutet etwas ganz anderes als das Gerede vom "Tod der Religion". Und über Europäische Christenheit zu sprechen bedeutet ganz sicher nicht, einen Widerspruch in sich zu formulieren.

Der Autor ist Professor für Religion und Geschichte an der Penn State University in University Park, Pennsylvania/Deutsch von Johannes Boie.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: