Europa:Das große Ganze jenseits von Brüssel

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Der Niederländer Luuk van Middelaar erzählt von einem einzigartigen Klub und der Essenz des Europäischen.

Von Thomas Kirchner

Wer oder was muss man sein, um ein gutes Buch über Europa schreiben zu können? Ein Politiker, der die taktischen Spiele in Brüsseler Verhandlungsnächten selbst erlebt und erlitten hat? Ein Journalist, der das Geschehen aus der Distanz beobachtet und verständlich macht? Ein Wissenschaftler, der Quellen erschließt und Modelle nutzt, um Ereignisse einordnen und vergleichen zu können?

Luuk van Middelaar vereint all dies in einer Person. Der in Brüssel lebende Niederländer ist Historiker, politischer Philosoph, war Berater des ehemaligen EU-Kommissars Frits Bolkestein, später Redenschreiber Herman Van Rompuys, des ersten Präsidenten des Europäischen Rats, dazu Kolumnist beim renommierten NRC Handelsblad, ein "public intellectual", wie er sich nennt, der sich zwischen den Sphären bewegt. Und vor allem: einer, der formulieren kann. So ist ihm ein herausragendes Buch gelungen, an dem niemand vorbeikommt, der die Essenz des Europäischen verstehen will.

In den Niederlanden erschien "Vom Kontinent zur Union" schon 2009, die französische Übersetzung erhielt 2012 den Europäischen Buchpreis. Dass es bis zur deutschen Version sieben Jahre gedauert hat, ist bezeichnend für die Selbstzufriedenheit, mit der hierzulande oft über Europa geredet wird. Die englische Ausgabe, die der Rezensent erwarb, hatte van Middelaar einem sehr hohen deutschen Beamten in Brüssel geschenkt, der sie offenbar ungelesen online verkaufte.

Der Titel des niederländischen Originals, "De passage naar Europa", drückt aus, was van Middelaar bezweckt. Er erzählt die Geschichte einer Reise: wie aus einer Gruppe von sechs Staaten, die nach dem Desaster der Weltkriege zusammenfanden, ein einzigartiger Klub wurde, eine Gemeinschaft, auf Regeln gebaut, über die sie in den Stürmen der Zeit längst hinausgewachsen ist. Den Leser erwartet keine konventionelle, lineare Geschichte der europäischen Einigung. Der Autor pickt sich Schlüsselmomente dieser Geschichte heraus, Momente, die jene "Zwischensphäre" entstehen ließen, die van Middelaar für den eigentlich wirkungsmächtigen Spielraum Europas hält.

Gemeint ist weder das Europa der Verträge und Brüsseler Institutionen noch die Gesamtheit der souveränen Staaten auf dem Kontinent, die in der Zusammenarbeit ihre je eigenen Interessen wahrnehmen. Vielmehr geht es um das Eigenleben des Klubs, das sich verselbständigt hat, jenseits der vertraglichen Grundlagen. Qua Mitgliedschaft verstehen sich die Staaten als Teile eines neuen Ganzen, mit einem alle einenden Interesse: dem Wunsch, diese Gemeinschaft funktionstüchtig zu halten. Was auch heißt: sie überhaupt zu erhalten. In dieser Zwischensphäre erkennt van Middelaar "die Quelle und Trägerin der europäischen Politik" und vergleicht seine Erkenntnis gar mit der Geburt des Fegefeuers, jenes Raums zwischen Erde und Himmel, den Theologen im Mittelalter erfanden und ins christliche Weltbild einpassten.

Wichtige Wegmarken der Reise nach Europa finden sich in den frühen Sechzigerjahren: Zu Recht weist van Middelaar auf die epochale Bedeutung jener beiden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs hin, die die unmittelbare Geltung europäischen Rechts und dessen Vorrang gegenüber nationalen Regelungen festschrieben. Auf die Folgen dieser eigenmächtigen "Konstitutionalisierung der Verträge" für die Akzeptanz der Demokratie weist Dieter Grimm seit Jahren hin.

Mit Hobbes, Locke und Rousseau erkennt van Middelaar sodann im Übergang von der Einstimmigkeit zum Mehrheitsprinzip das Element, welches das Entstehen eines eigenen politischen Körpers der Gemeinschaft erst ermöglicht hat. Am 1. Januar 1966 sollte es so weit sein, doch Frankreich stellte sich quer, ließ seinen Stuhl im Ratssaal sieben Monate lang leer. Im Luxemburger Kompromiss, mit dem De Gaulle zurück an den Tisch geholt wurde, sieht van Middelaar, anders als die meisten, weniger den Beginn einer Lähmung als eine europäische Variante der Bill of Rights: Wie diese die Amerikaner vor staatlicher Willkür bewahrte, schützten sich die einzelnen Staaten Europas nun gegen den Willen einer Staatenmehrheit. Fortan konnte zwar jeder mit dem Veto drohen, doch hatten sich die Sechs zusammengerauft und zu einem "vertiefenden Miteinander" gefunden.

Den sich damit öffnenden Raum für europäische Politik wussten die Staats- und Regierungschefs 1974 mit der Gründung des Europäischen Rates geschickt zu besetzen. Weitere Stationen: die Einheitliche Europäische Akte, die erste Erneuerung der europäischen Ordnung; die Vertragsänderungen von Maastricht, Amsterdam, Nizza; schließlich der gescheiterte Verfassungsvertrag, mit dem die Union an Grenzen stieß. Der Versuch, den Staatenklub zum Staat zu machen, ist definitiv gescheitert. Jegliche Heilserwartung haben die Europäer über Bord geworfen. Kein Hafen in Sicht, sie werden wohl dauerhaft in der Vorhölle leben müssen.

Ist das ein Unglück? Nein, meint van Middelaar, solange es gelingt, "Ereignissen", also Störungen der Ordnung, zu begegnen und den Bürgern Schutz zu bieten. Am Ende ist die Botschaft eine tröstliche: Diese Gemeinschaft ist Europa sehr viel wert. Sie werden (sich) daran festhalten. Auch ohne Briten.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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