Essay:Die Frau auf der Leiter

Essay: Katharina Hartwell, geboren 1984, lebt in Berlin. Für ihren ersten Roman "Das Fremde Meer" erhielt sie den Förderpreis für phantastische Literatur Seraph.

Katharina Hartwell, geboren 1984, lebt in Berlin. Für ihren ersten Roman "Das Fremde Meer" erhielt sie den Förderpreis für phantastische Literatur Seraph.

(Foto: Tobias Bohm/Berlin Verlag)

Im Krimi ist die Aufklärung des Verbrechens ein Moment der Ernüchterung: Plädoyer für die Ungewissheit.

Von Katharina Hartwell

Als ich letzte Woche mit dem Fahrrad durch den Tiergarten fuhr, sah ich eine Frau auf einer Leiter. Die Leiter war an einen Baum gelehnt, und die Frau machte sich an den Ästen zu schaffen. Was genau sie dort tat, konnte ich im Vorbeifahren nicht erkennen. Ich wunderte mich. Es kam mir vor, als hätte der Frau etwas Verstohlenes, Ertapptes angehaftet. Ich hatte die Frau auf der Leiter also ertappt, aber ich wusste nicht wobei.

Ich berichtete einem Freund von dem Leitervorfall, und er wies mich auf die vielen guten Gründe hin, aus denen die Frau im Tiergarten auf einer Leiter gestanden haben könnte. Sie hatte vielleicht etwas pflücken oder einen Gegenstand aus den Ästen befreien wollen. Vielleicht hatte sie auch ein Tier, eine Katze wahrscheinlich, dort oben in der Krone erspäht und ihr herunterhelfen wollen.

"Aber deswegen schleppt man doch nicht eine Leiter durch den halben Tiergarten", warf ich ein. Die Frau habe auch keine Uniform oder Arbeitskleidung getragen, bloß einen sogar recht schicken Anorak. Doch unter den prüfenden Augen meines Freundes wurde das Rätsel immer weniger rätselhaft. "Da gibt es doch ein Haus im Tiergarten, in der Nähe von deiner Radstrecke. Dort wohnt vielleicht jemand, der für die Instandhaltung des Parks mitverantwortlich ist. Eine Frau im schicken Anorak zum Beispiel", sagte er.

Die kalkulierte Lücke, die am Ende geschlossen wird, ist mir zu übersichtlich

Die Erklärung meines Freundes war plausibel, aber auch sehr langweilig. Ich möchte darum eine andere vorschlagen: Vielleicht wohnte die Frau mit dem schicken Anorak in dem Baum. Zumindest im Winter. Der Baum war hohl, und sie konnte sein Inneres nur über die Krone erreichen. Nachdem sie die Leiter hinaufgeklettert war, verschwand sie über eine Öffnung im ausgehöhlten Stamm, und da stand sie dann den ganzen Winter sehr still und blinzelte durch eines der Astlöcher in die Welt hinaus. Nur die einsame, an den Baum gelehnte Leiter würde noch verraten, dass die Frau je dort hinaufgeklettert war. Aber irgendwer würde schon eine langweilige Erklärung dafür finden, warum eine einsame Leiter im Tiergarten herumstand.

Zugegebenermaßen handelt es sich bei meiner kleinen Geschichte von der Frau im hohlen Baum um eine Scheinantwort auf das Leiterrätsel, eine Antwort, die eine ganze Reihe neuer Fragen aufwirft: Warum sollte die Frau den Winter in einem Baum verbringen? Handelt es sich überhaupt um eine Frau? Und wie wird sie den Baum im Frühjahr wieder verlassen?

Schauen wir uns die Anekdote von der Frau auf der Leiter noch ein wenig genauer an, schauen wir sie uns an wie Sherlock Holmes, wie C. Auguste Dupin und Miss Marple es tun würden, mit der Lupe und einem kleinen Notizheft in der Hand. Wir haben eine simple Handlung und zwei Figuren. Um Holmes, Dupin oder Marple zu interessieren, bräuchte es natürlich noch die ein oder andere Leiche. Es gibt in dieser Geschichte aber keine Leichen, es gibt etwas anderes. Es gibt eine Lücke, eine Leerstelle, und die prangt irgendwo im Gewebe der Geschichte, dort, wo wir Erklärungen erwarten: Was zum Teufel macht die Frau im Anorak auf der Leiter?

Die Leerstelle, die Lücke ist fester Bestandteil sämtlicher Detektiv- und Kriminalgeschichten. Im klassischen Genre ist sie in der Regel klar eingegrenzt: In der Leerstelle verbirgt sich der Täter. Alternativ findet sich hier das Motiv oder der genaue Tathergang. Auch in Thrillern, in Schauerromanen, in Mystery- und Horrorfilmen begegnen wir der Leerstelle. Dort, wo es in einem Haus spukt, dort, wo jemand unter ungeklärten Umständen verschwindet, dort, wo von einem Familiengeheimnis die Rede ist, oder auch dort, wo ein Kind eine Bewegung in den Schatten wahrnimmt, befindet sich immer eine Leerstelle. Aber warum liebt das Genre die Leerstelle?

Zunächst einmal, weil sie Spannung generiert. Wir blättern die Seiten um, wir schauen gebannt den Film zu Ende, weil wir etwas auf der Spur sind. Wir glauben, jene Frage, die der Text aufwirft, unbedingt beantworten zu wollen. Interessanterweise ist es auch eine Frage, die einem ganzen Subgenre seinen Namen gegeben hat: Im Englischen spricht man vom Whodunnit-Mystery.

Der klassischen Detektiv-Geschichte gegenüber habe ich bestimmte Vorbehalte. Ihr Bauprinzip ist mir zu übersichtlich: Setting, Figuren, Plot, in der Mitte die ordentlich ausgeschnittene Lücke, die dann am Ende zubetoniert wird. Ist die Ermittlung abgeschlossen, der Täter gefunden, überkommt mich immer ein Gefühl der Ernüchterung. Genau, wie wenn ich an den Tiergarten denke und daran, dass die Frau auf der Leiter wohl tatsächlich nicht in einem hohlen Baumstamm lebt.

Der gleiche Effekt tritt bei mir auch dann ein, wenn im neuesten Horror- oder Sci-Fi-Film das Monster, der Geist oder der Außerirdische aus dem Schatten tritt. Interessanterweise lautete ein unter Horrorfilm-Begeisterten häufig geäußertes Lob: "Von dem Monster konnte man kaum etwas sehen." Das mag zunächst verwundern. Ist man denn nicht ins Kino gegangen, um das Monster zu sehen? Hier schließt die Frage an, wie es möglich ist, dass wir uns einen spannenden Film ansehen und uns noch Jahre später an den maskierten Mörder erinnern und das Unbehagen, das er in uns auslöste, aber schon Wochen später vergessen haben, wer sich hinter der Maske verbarg. Es scheint, als sei genau das, was wir (noch) nicht sehen, interessanter, beunruhigender, faszinierender als das, was wir sehen. Solange es noch eine Leerstelle gibt, denke, mutmaße, spekuliere, rätsele ich. Die Antwort hingegen lässt mich in meinen Sessel zurücksinken. Die Antwort verlangt von mir keine Arbeit, keine Anstrengung, sie macht mich passiv. Ich arbeite nicht mehr mit an der Geschichte, ich nehme nur noch auf und vergesse. Die Leerstelle hingegen will etwas von mir, sie verlangt meine Kooperation. In der Leerstelle wird der Konsument zum Produzenten, der Leser selbst zum Autor. Die Geschichte spinnt sich weiter in seinem Kopf.

Aber wenn es der Leser ist, der hier den Text produziert, was macht dann eigentlich noch der Autor? In der Leerstelle, heißt es, ist der Autor faul, verweigert er sich. Dabei ist es doch genau seine Aufgabe, sich bitte etwas einfallen zu lassen.

Die Schönheit des Rätsels liegt im schillernden Netz der vielen Möglichkeiten

Die Leerstelle aber ist viel mehr als bloß das Produkt der Faulheit, und sie entsteht auch nicht als Resultat einer ratlosen Auslassung. Für den Autor ist die Arbeit an der Leerstelle bloß eine grundlegend andere als die des Erzählens. Sie erinnert weniger ans Zeichnen oder Malen und mehr an den Scherenschnitt. Ein bestimmtes Bild entsteht, nicht weil etwas hinzugefügt wird, sondern weil etwas entfernt, weggenommen wird. Die Kraft der Leerstelle ist gegenläufig zu der sonstigen Arbeit des Schreibenden. Denn ein Schreibender häuft in erster Linie an: Worte, Sätze, Kapitel, Bedeutung, Sinn, Beobachtung, Erklärung. Ein Text ist vor allem Akkumulation. Figuren sind Anhäufungen, kleine Berge aus Eigenschaften, Charakterzügen, den Erlebnissen, die sie ausmachen, den Gedanken, welche die Autorin für sie zusammengesucht hat.

Aber wie schwer kann es sein, etwas wegzulassen? Die Antwort - eine mögliche Antwort zumindest - finden wir im Schach. Will ich eine Partie gewinnen, muss ich alle meine Figuren an bestimmten Positionen platzieren, Positionen, die es dem gegnerischen König unmöglich machen, länger vor mir zu fliehen. Der König ist dann in einem unsichtbaren Netz gefangen, umzingelt von Hypothesen: Bewegst du dich hierhin, komme ich zu dir. Eine gute Lücke zu bauen ist eine ähnlich große Herausforderung, wie den gegnerischen König schachmatt zu setzen. Es geht nicht darum, den einen Zufallsmoment zu finden, den einen Zug zu machen, in dem er geschlagen wird. Es geht darum, eine ganze Reihe möglicher Züge zu antizipieren, das Netz zu spinnen, die Fäden zu spannen. Die Schönheit des Rätsels liegt im Netz der Möglichkeiten. Man kann sie alle schillern sehen, fast sind sie da, kurz blitzen sie auf.

Der Höhepunkt des Whodunit-Mystery, der Augenblick, in dem der Detektiv vor die Versammelten tritt und Täter, Motiv und Tathergang offenbart, wirkt auf mich immer ein wenig so, als hätte der selbstsichere Ermittler in das Netz der Möglichkeiten geschnitten, einen Faden herausgezogen und zufrieden ausgerufen "Ich hab' ihn!" Auf der inhaltlichen, der Handlungsebene verstehe ich die Funktion dieses Moments, als Autorin aber macht er mich immer traurig - sicher, du hast den Faden, aber das Netz ist kaputt. Hier tummeln sich keine Spinnen mehr, nein, hier kann noch nicht einmal angeknüpft und weitergesponnen werden.

Dieser Moment, der große Triumph des Ermittlers, blickt auf eine lange Tradition zurück. 1841 erschien ein Text, der heute weitgehend als die erste moderne Detektivgeschichte angesehen wird - Edgar Allan Poes "The Murders in the Rue Morgue". Hier tritt Poes berühmter Detektiv, C. Auguste Dupin, ein Vorläufer Sherlock Holmes', zum ersten Mal auf und sieht sich konfrontiert mit einem scheinbar unlösbaren Rätsel: Zwei Frauen, Mutter und Tochter, wurden in einem Apartment ermordet, das sich im vierten Stock eines Gebäudes befindet und zum Zeitpunkt des Verbrechens von innen her abgeriegelt war. Das Rätsel, um das es geht, ist sicher um einiges rätselhafter als meine Begegnung mit der Frau auf der Leiter. Etwas aber ist beiden gemein. Eine Öffnung findet statt, die Leerstelle klafft, der Einbruch des Übernatürlichen, des Unerklärlichen und Unvorstellbaren wird möglich.

In Poes Erzählung (passenderweise untertitelt mit "Tales of Ratiocination" - in etwa: Geschichten des rationalen Denkens) wird es recht schnell gebannt. Denn Dupin findet eine Erklärung für das zunächst scheinbar unerklärliche Verbrechen: Es war kein Geist, der sich Zutritt zu dem verschlossenen Apartment verschafft hatte, sondern bloß ein Affe, der die Fassade des Gebäudes hinaufgeklettert und durch das Fenster hineingelangt war. "Da hat sich jemand was einfallen lassen", würde der Anhänger des klassischen Whodunits wohl sagen. Nun gut, die Erklärung mag originell sein, aber selbst die zauberhafteste Erklärung entzaubert und hinterlässt - zumindest auf meiner Zunge - einen schalen Beigeschmack. Ein Affe mit einer Rasierklinge stellt unser Konzept von Wirklichkeit nicht auf den Kopf. Eine zufriedenstellende Erklärung auf die Frage, wie jemand sich Zutritt zu einem verschlossenen Raum hat verschaffen können, wurde gefunden, die Lücke ist geschlossen, und wir sind amüsiert oder verärgert. Oder gelangweilt. So gelangweilt, wie wenn wir uns vorstellen, dass eine Frau im Anorak ihr Haus im Tiergarten verlässt und auf eine Leiter klettert, um einen Ball zu entfernen, der sich in den Ästen verfangen hat.

Doch die Rätsel, die Leerstellen sind natürlich nicht bloß den Büchern und Filmen vorbehalten, sie finden sich auch in der Welt. Auch hier werden Verbrechen begangen, auch hier verschwinden Menschen oder Gegenstände, auch hier hoffen wir auf Erklärungen und bekommen sie manchmal und manchmal nicht. Wie wir den Leerstellen, den Rätseln, den Frauen auf Leitern begegnen, hängt von uns ab und sicher auch davon, was wir uns aus der Konfrontation mit der Leerstelle erhoffen. Da ist der wissenschaftlich analytische Ansatz, den auch Poes Dupin verfolgt. Hier geht es darum, die plausibelste Erklärung zu finden, das Haus im Tiergarten aufzuspüren, eine Wahrheit zu finden, über die Welt, den Körper, die Natur und die Technik. In der Fiktion aber ziehe ich einen diffuseren, weniger effizienten Ansatz vor. Ich lungere lieber noch ein wenig am Rand des schwarzen Loches herum und werfe ab und zu einen Blick in den unendlichen Raum all der Dinge, die wir nicht wissen. Gerade am Rand, in den Bruchstellen, den rauen Kanten glaube ich, eher zu finden, wonach ich suche.

Solange die Leerstelle noch klafft, ist sie wie eine Tür, ein geheimer Eingang. Treten wir einen Schritt näher an sie heran und schauen hinein, sehen wir vielleicht ein gewaltiges schwarzes Loch. Man weiß noch nicht, wie groß es ist oder wer sich darin verbirgt, ob das Loch einen Boden hat oder Wände. Stellen wir es uns vor wie das Innere einer endlosen Tropfsteinhöhle. Irgendwo dort drinnen wachsen die Antworten auf all unsere Fragen wie Stalaktiten von der Decke.

Wie kommt man dem, was man sich nicht vorstellen kann, bei? Kaum mit Vorstellungskraft

In der Tropfsteinhöhle aber lauert auch das Unvorstellbare, das Monster, das wir nicht gesehen haben, der Geist, der sich nicht offenbart. "Da hatte ich mir aber etwas Gruseligeres vorgestellt", klagt mancher Zuschauer, wenn sich das Monstrum dann doch offenbart. Aber stimmt das? Hatte er? Liegt der wahre Horror nicht vielmehr genau in dem, was man sich nicht vorstellen kann, dem Unvorstellbaren? Das Unvorstellbare nämlich macht seinem Namen alle Ehre, es ist unvorstellbar grausam, unvorstellbar schrecklich, schön, fantastisch. Es ist mehr, als ein Affe mit Rasierklinge je sein könnte, aber auch mehr als jeder Geist, jedes Monster, jeder Außerirdische. Aber wie kommt man dem, was man sich nicht vorstellen kann, bei? Jedenfalls nicht, indem man es sich vorstellt. Und vielleicht ist es ja auch gar nicht die Aufgabe der Fiktion, das Unvorstellbare einzufangen, es aus seiner Höhle und ans Licht zu zerren, sondern vielmehr, es vorsichtig zu umkreisen, seine Schatten zu vermessen, seine Spuren zu untersuchen.

Also bleiben wir bei den Rändern, lassen wir sie flimmern, besehen wir uns die Ränder mit größtmöglicher Präzision, denn hier in der Bruchstelle, im Übergang von der Wirklichkeit, die wir kennen, zu der Leerstelle, in der alles möglich ist, wird sich das Unvorstellbare, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde und nie in seiner ganzen Größe offenbaren. Und falls Ihnen das zu diffus ist, dann hier noch ein ganz konkreter Vorschlag: Wenn Sie das nächste Mal durch einen Wald gehen, dann halten Sie Ausschau, sehen Sie genau hin, und vielleicht blinzelt Ihnen ja jemand aus einem Astloch zu.

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