Neuer Erzählband von Clemens Meyer:Die ganze europäische Gegenwart in einem einzigen Bild

Er gilt als harter Hund, doch in seinem neuen Erzählband "Die stillen Trabanten" inspiziert Clemens Meyer die Hinterlassenschaften der untergegangenen DDR mit feiner Sensibilität für mythologische Motive.

Von Jörg Magenau

Versunkenes Gelände: Stillgelegte Trabis in Madgeburg.

Versunkenes Gelände: Stillgelegte Trabis in Madgeburg.

(Foto: picture alliance / dpa)

Seit seinem Debütroman "Als wir träumten" aus dem Jahr 2006 über Jugendliche im Leipzig der Nachwendezeit gilt Clemens Meyer als der harte Hund unter den jüngeren Autoren. Und er gilt als Realist unter den Erzählern, der sich den Randbezirken der Gesellschaft zuwendet.

Beides ist nicht ganz falsch, doch zu jedem harten Hund gehört eine zarte Seele, und zu Meyers Realismus gehört eine feine Sensibilität für mythologische Motive, die tiefer und wahrer sind als die Oberfläche der sogenannten Wirklichkeit.

Das lässt sich auch an seinen neuen Geschichten "Die stillen Trabanten" ablesen, die - im Unterschied zu den noch als "Stories" bezeichneten kürzeren Texten in "Die Nacht, die Lichter" von 2008 - nun nahezu klassisch als "Erzählungen" firmieren. Also etwas weniger Hemingway und etwas mehr Wolfgang Hilbig? Weniger Dos Passos und dafür mehr Jörg Fauser? Nein. Clemens Meyer hat seinen eigenen, nächtlichen Ton, jenseits all seiner literarischen Vorbilder von Céline bis Hubert Fichte.

"Die stillen Trabanten" zeigen einmal mehr, welche Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten ihm auf begrenztem Raum zur Verfügung steht. Wieder einmal ist der deutsche Osten und vor allem Leipzig als Handlungsort erkennbar, und da sind es vorwiegend Durchgangsstationen wie der Bahnhof, ein Ausländerwohnheim oder ein Treppenhaus im Plattenbau und traurige Orte wie ein Hinterhof, ein verlassenes Fabrikgelände oder eine Tankstelle am Stadtrand.

Doch einige Geschichten führen auch in entferntere Orte und vor allem immer wieder in die Vergangenheit. Alte Männer treten auf und erzählen von früher: So der Strandbahnfahrer in einem Bad an der Ostsee, der jeden Abend auf einer Bank sitzt und übers Wasser schaut, wo früher Land war und die Gleise der Bahn.

Melancholischer, sehnsuchtsvoller Ton

In diesem versunkenen Gelände wurzeln seine Träume und seine Erinnerungen an ein russisches Mädchen, in das er sich während des Krieges verliebte. Fast immer erzählt Meyer aus der Perspektive des Verlusts, der Vergeblichkeit und des Vergangenen. Das gibt den Texten ihren melancholischen, sehnsuchtsvollen Ton.

"Was ist schon gegenwärtig? Nichts", sagt deshalb der Ich-Erzähler in der Titelgeschichte. "Gegenwärtigkeit ist ein völlig falscher Begriff, wir befinden uns immer wieder woanders."

Die Realität, die Meyer erschafft, ist durchlässig für Träume, Wünsche, Fantasien, und manchmal verwirklicht sich die Liebe in diesem imaginären Raum, weil es der einzige ist, den die Wirklichkeit ihr bietet. Meyer erzählt diskontinuierlich, in Sprüngen zwischen den verschiedenen Ebenen. Man muss deshalb aufmerksam lesen, um nicht in die Spalten zwischen den Übergängen zu stürzen.

Ohne viele Worte ist spürbar, wie viel sich die beiden bedeuten

So ist es auch in der Titelgeschichte, in der sich ein Imbissbudenbesitzer jede Nacht im Treppenhaus im 19. Stock des Hochhauses mit einer jungen Nachbarin trifft, um mit ihr am Fenster zu rauchen. Sie ist mit einem Muslim verheiratet, zum Islam konvertiert und trägt ein Kopftuch. Er, keineswegs religiös gestimmt, besucht dennoch ihre Moschee, um besser zu begreifen, was sie daran fasziniert.

Die nächtlichen Begegnungen sind scheu und diskret, die Form wird gewahrt, und doch ist ohne viele Worte spürbar, wie viel sich die beiden bedeuten. "Wie es eben manchmal so ist", sagt der Erzähler zu seinem abwesenden Freund, mit dem er sich in Gedanken unterhält.

Die ganze Empathie und Gleichgültigkeit unserer Zeit

Die "stillen Trabanten" sind nicht nur die Lichter der Trabantenstadt in der Nacht, es sind auch Meyers Figuren, die sich umkreisen auf ihren Lebensbahnen und dabei immer den Abstand wahren und einsam bleiben.

Der Band ist in drei mal drei Geschichten aufgeteilt, die jeweils prologartig durch ein kurzes, szenenartiges Stück strukturiert werden. Das erste davon begleitet ein paar Arbeiter an einem heißen Sommertag, die mit Motorsensen das Gras entlang der Schnellstraße mähen.

Leseprobe

Einen Auszug aus den Erzählungen bietet der Verlag hier an.

In einem Wäldchen treffen sie auf eine Flüchtlingsfamilie, die sich um ein totes Kind lagert. Offenbar hat der Junge Herbstzeitlose gegessen und ist an ihrem Gift gestorben. Ein Krankenwagen kommt, die Arbeiter kehren zu ihren Brachflächen zurück und, so heißt es dann im letzten Satz, "arbeiteten schweigend, bis es Abend wurde".

Die kleine Szene enthält alles, was Meyer immer wieder gekonnt ausspielt: In einem einzigen, mythologisch lesbaren Bild ist die europäische Gegenwart aufgehoben mit der ganzen Empathie und der ganzen Gleichgültigkeit unserer Zeit, die ja beide nahtlos nebeneinander bestehen können.

Eine Geschichte handelt von Pferderennen, einer großen Leidenschaft des Pferdebesitzers Clemens Meyer. Da erzählt er von einem alten Jockey und seinem letzten großen Traum, ein Rennen auf einem zugefrorenen See in St. Moritz zu gewinnen. Der Schimmel im Schnee, dessen Konturen kaum zu erkennen sind, die Hufe auf dem vibrierenden Eis werden zum Traumbild des Todes.

Der Wachmann und die junge Frau tanzen in einem Saal auf Glasscherben

Auch der Lokführer, der mit seinem Güterwagen eine Strecke an der ehemaligen innerdeutschen Grenze befährt, wo plötzlich ein lachender Mann auf den Gleisen steht, ist ein Todesbote. Der Selbstmörder lässt ihm keine Ruhe, er will wissen, um wen es sich gehandelt hat, und geht der Sache nach.

In einer anderen Geschichte lernt eine Waggonreinigerin im Leipziger Bahnhof eine Friseuse kennen. Die beiden sitzen nach ihrer Schicht in der Bar der Bahnhofskneipe. Da entsteht auch so eine scheue Freundschaft, die nur so lange oder vielmehr so kurz dauert, wie das Leben die beiden in der Nähe hält.

Auch der uniformierte Wachmann, der mit seinem Hund nachts im Ausländerwohnheim patrouilliert und sich in eine junge Frau verliebt, die am Zaun steht, wird zu einer klassischen Meyer-Geschichte, wenn die beiden in einem Saal auf Glasscherben tanzen.

In der letzten Erzählung liefert Meyer die eigene literarische Vorgeschichte

Eine Überraschung ist die letzte und längste Erzählung. Sie spielt unter deutschen Emigranten in Moskau während des Zweiten Weltkrieges. Hauptfigur ist der Arbeiterschriftsteller Willi Bredel, der in einem Störtebeker-Roman aus dem Freibeuter einen Vorkämpfer des Proletariats machen will. Johannes R. Becher lungert als Morphinist herum, der als Denunziant gefürchtete Alfred Kurella hat einen Auftritt als Stotterer.

Die Angst, verhaftet und deportiert zu werden, ist greifbar. Wenn man weiß, dass Kurella erster Direktor des Leipziger Instituts für Literatur wurde, das "Johannes-R.-Becher-Institut" hieß, dann liefert Meyer, der dort von 1998 bis 2003 studierte, mit dieser historischen Skizze sozusagen die eigene literarische Vorgeschichte.

Ohne die DDR gäbe es weder die nächtlichen Verlorenheiten und ostdeutschen Randgebiete, über die er schreibt, noch das Literaturinstitut, das heute wie damals prägende Stimmen der Gegenwartsliteratur hervorbringt. Meyer zeigt auch in diesen atmosphärisch dichten Erzählungen, dass er zu diesen prägenden Stimmen gehört.

Clemens Meyer: Die stillen Trabanten. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 270 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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