Erzählungen:Drei Mal Leben

Reinhard Kaiser-Mühleckers Langerzählungen folgen den Verästelungen von Schuld und Schweigen. Die drei Texte beginnen mit dem Alltag und wachsen zusammen zu einer einzigen Seelenlandschaft.

Von Christoph Schröder

Es beginnt stets mit alltäglichen Situationen, mit einem Spaziergang am Seeufer oder mit einem Arbeitstag in einem Betrieb für landwirtschaftliche Maschinen. Oder mit einem Keilriemen. Den soll Wenzel, der Ich-Erzähler der zweiten von insgesamt drei, jeweils um die 100 Seiten langen Erzählungen dieses Bandes, für seinen Freund Ferdinand Goldberger auf einem Bauernhof seines Heimatdorfes abholen. Oben im Schlafzimmer liegt der Alte, vor dem sie als Kinder immer schon Angst hatten. Um dessen Auto sie geschlichen sind, auf dessen Beifahrersitz stets eine Ausgabe von "Mein Kampf" gelegen hat, jedenfalls war es so in der Erinnerung. Der Alte ist todkrank, aber Schnaps trinken kann er noch, in Mengen. Und er hat eine Lebensbeichte abzulegen, zu deren zunächst unfreiwilligem, jedoch zunehmend fasziniertem Zuhörer er Wenzel macht.

Der Name Ferdinand Goldberger hat im Universum des Oberösterreichers Reinhard Kaiser-Mühlecker bereits einen festen Platz: Er war der Protagonist des voran gegangenen Romans "Schwarzer Flieder". Das ist ein Beispiel für die Art und Weise, in der Kaiser-Mühlecker sein Werk verzahnt, sodass daraus eine sich nach und nach ausbreitende Fläche von Geschichten wird, die sich zum Stimmungsbild einer ganzen Landschaft verdichten.

Man redet hier nicht viel miteinander, weder unter Arbeitskollegen noch unter Ehepartnern. In "Spuren", dem ersten und in der Kraft der Auslassung und Aussparung kunstvollsten der drei Texte, wird der Erzähler von seiner Frau verlassen, weil er seine Stellung als Anlageberater verloren hat und weil sie ihn überhaupt für einen Versager hält. Seinen ursprünglichen Beruf als Zimmermann hatte er zuvor aufgeben müssen; die neue Stellung hat er nur bekommen, weil sein Vorgänger Selbstmord begangen hat, aber inmitten der Finanzkrise hat niemand mehr Geld, das sich anlegen ließe.

Die einzelnen Geschichten wachsen zusammen zu einer einzigen Seelenlandschaft

Die drei Erzählungen haben verbindende Elemente: Zum einen enden sie auf eine höchst überraschende Weise, die dazu zwingt, das bis dahin Gelesene noch einmal in einem neuen Licht zu betrachten. Zum anderen bleiben sie in einer vorsichtig-defensiven Grundhaltung, in einem Status der Passivität, der dafür sorgt, dass die Ereignisse durch die drei durchgehend männlichen Perspektiven mehr hindurchzufließen scheinen, als dass sie kontrollier- oder steuerbar wären.

"Der Mensch ist ein Rätsel", das ist einer der Sätze, die der Alte in seiner Kammer geradezu mantraartig wiederholt. Das mag eine banale Einsicht sein. Nicht banal ist allerdings, dass Kaiser-Mühlecker es all seinen Figuren gestattet, sich auch selbst ein Rätsel zu bleiben. So sind sie angewiesen auf Zuschreibungen von außen, deren Wahrheitsgehalt sich nicht überprüfen lässt, weil es keine Instanz gibt, die die Wahrheit kennt.

Ob der von seiner Frau verlassene Erzähler in "Spuren" tatsächlich ein Versager ist oder vom Pech verfolgt wird; ob er sich, wie er es selbst beschreibt, eine freiwillige Auszeit nimmt oder vielmehr in einer tiefen Depression versunken ist - es macht keinen Unterschied für die augenblickliche Daseinsform. Stets geht es um Schuld, die ein Mensch auf sich geladen hat, sei es wissentlich und aus niedrigen Motiven, sei es unwissentlich, durch eine Handlung, die dann zu einer Katastrophe führt oder geführt hat. Der Band ist eine Ansammlung von Bekenntnissen und geht der Frage nach, welche Konsequenzen eine Lüge, eine Denunziation oder auch nur ein Schweigen im falschen Moment haben kann. Nicht ohne Grund heißt trägt die Erzählung des Alten den Titel "Male". Auf eine sehr stille, darum aber nicht weniger radikale Weise wird in diesen Texten das, was man Lebensplanung nennt, ad absurdum geführt.

In "Zeichnungen", der titelgebenden dritten Geschichte, heißt es. "Mein Leben lang hatte ich meine Zukunft als etwas in klaren Strichen Vorgezeichnetes gesehen. Jetzt sah ich nichts mehr - mein inneres Auge schaute in ein Weiß." Wer die Romane von Reinhard Kaiser-Mühlecker kennt, wird nicht überrascht sein, mit welcher Präzision und Feinheit er die Linien aus den weiten weißen Flächen herauszuarbeiten weiß. Doch es ist jedes Mal aufs Neue verblüffend.

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Zeichnungen. Drei Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 304 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 17,99 Euro.

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