Erzählen im Fernsehen und im Roman:Das Gesetz der Serie

true detective

Die Polizisten Martin Hart (Woody Harrelson) und Rust Cohle (Matthew McConaughey) in True Detective

(Foto: HBO)

Von den "Sopranos" über "The Wire" bis hin zu "True Detective": Zu den großen Gewinnern beim Publikum zählt das neue Erzählfernsehen. Es wird häufig als Erbe des Romans bezeichnet - aber stimmt das wirklich?

Von Christopher Schmidt

Der 2001 verstorbene Theatermacher Einar Schleef hat das Fernsehen einmal mit dem Kasperletheater verglichen. Er bezog sich dabei auf verschiedene Aspekte: das Guckkasten-Prinzip, das einen in sich geschlossenen Illusionsraum schafft, die berühmte vierte Wand, die von der Theaterbühne auf das Fernsehgerät - zu Schleefs Zeiten ja tatsächlich eine Kiste - überging. Das andere war für ihn die Miniaturisierung, die Kasperlepuppen ebenso betrifft wie Fernsehfiguren. Hinzu kam eine vergleichsweise flächige Darstellungsweise, die eigentlich nur Vorder- und Hintergrund, kaum je aber einen Mittelgrund kannte.

Diese Merkmale dürften angesichts von HD, 3D und expandierenden Bildschirmen heute weniger ins Gewicht fallen. Geblieben aber ist die episodische Dramaturgie. Im Puppenspiel ist es ja die schiere Platzökonomie, die eine Aufspaltung der Handlung erzwingt. Da in der Regel nicht mehr als zwei Spieler sich den Raum hinter der Bühne teilen können, wird das Personentableau auf dieser Bühne auf natürliche Weise begrenzt. Man muss also Zwischenvorhänge einplanen, die es den Spielern erlauben, die Handpuppen zu wechseln, ohne dass die Spannung abfällt.

Balzac als Ahnvater der Fernsehserie

Heute nennt man es Cliffhanger, wenn eine Szene auf ihrem Höhepunkt abbricht und dadurch den Suspense steigert, der ja wörtlich nichts anderes bedeutet als "in der Luft hängen". Der Begriff Cliffhanger geht zurück auf den englischen Schriftsteller Thomas Hardy (1840-1928), der eine Folge seines Fortsetzungsromans "A Pair of Blue Eyes" damit beendete, dass sein Held zwischen Leben und Tod an einer Klippe hängt. Dass Romane kapitelweise in Zeitungen veröffentlicht wurden, war im 19. Jahrhundert üblich und brachte eine neue serielle Erzählweise hervor. Aus diesem Grund wird vor allem Honoré de Balzac gerne als Gründervater der Fernsehserie aus den Kulissen gezerrt.

Mit dem Aufkommen dessen, was man amerikanisches Erzählfernsehen nennt und der offiziellen Geschichtsschreibung zufolge mit den "Sopranos" begann und mit "The Wire" so richtig Fahrt aufnahm, wurde der Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts besonders häufig als Referenzgröße herbeizitiert. Dafür gibt es formale wie inhaltliche Gründe. Der als "auteur" zeitweilig ins französische AvantgardeKino eingewanderte Autor hat im neuen Typus des Showrunners einen natürlichen Nachfolger gefunden. Mit seiner künstlerischen Handschrift drückt er einer Serie seinen Stempel auf und gewährleistet deren Unverwechselbarkeit. Er verkörpert das Einzigartige im Gegensatz zur industriellen Massenfertigung und verhilft dem Zuschauer zu einer festen Adresse seiner Geschmacksurteile.

Ein exemplarischer Showrunner ist der amerikanische Kriminal- und Drehbuchautor Nic Pizzolatto. Die von ihm kreierte Serie "True Detective" folgt wie annäherungsweise schon "The Wire" einem - noch so ein neuer Wortfetisch - anthologischen Muster, das heißt: Schauplätze und Protagonisten werden von Staffel zu Staffel ausgetauscht. Ein weiteres Kennzeichen fortschreitender Literarisierung ist das epische oder horizontale Erzählen. Es bedeutet, dass Handlungsstränge, die innerhalb einer einzigen Folge - vertikal - abgehandelt werden, zurücktreten hinter diejenigen, die sich - horizontal - über größere Zeiträume erstrecken.

Diese Schubumkehr einer tendenziellen Vernachlässigung kurzer Handlungsamplituden zugunsten von längeren bedingt schon aus sich selbst heraus inhaltliche Vertiefung und bereitet schauspielerischer Verfeinerung das Feld. Serien wie "Mad Men" oder "House of Cards" sind weniger Plot-getrieben als ältere Vorgänger und legen den Akzent eher auf eine panoramatische Gesamtbetrachtung eines bestimmten Milieus, sie sind ein additiver Gesellschaftsroman, die zeitgenössische Comédie humaine. Der Serie ist also das Kunststück gelungen, gleichermaßen innovativ wie traditionsgebunden zu sein, indem sie eingeführte ästhetische Strategien auf ein neues Medium übertrug.

Audiovisuelles Eimersaufen

Möglich wurde diese künstlerische Aufwertung jedoch erst unter neuen technischen Voraussetzungen: das Heraustreten der Serie aus dem Programmschema der Fernsehstationen, dem Sendeplatz, auf den sie einst festgelegt war, und ihre Emanzipation von den Produktionsbedingungen der klassischen Networks. Damit einher ging die Unabhängigkeitserklärung vom Quotendiktat. Das zielgruppenspezifische Narrowcasting trat an die Stelle von Massenkompatibilität und gab den von ökonomischem Druck entlasteten Machern mehr Freiheit zu Experiment und gezielter Adressierung von Rezeptionseliten. DVD und Video-Stream als neue Trägermedien haben zu jenem Phänomen geführt, das man als Binge-Viewing bezeichnet und vielleicht am treffendsten als audiovisuelles Eimersaufen übersetzen könnte.

Der mündig gewordene, zur autonomen Steuerung seines Verbrauchs ermächtige Kulturkonsument entscheidet nun selbst, wann und in welcher Dosis er sich sein Quantum Augenzauber verabreicht. Serien eben nicht gestückelt, sondern en suite anzuschauen ist die neue Form dessen, was Max Goldt in den Achtzigerjahren bezogen auf die TV-Serie "Dallas" als "kultisches Fernsehen" identifiziert hatte.

In der Bewertung dieser ästhetischen Druckbetankung und der dramaturgischen Muster, die von "The Office" bis "Breaking Bad" solches Freizeitverhalten befördern, sind sich die Experten jedoch uneinig. Die einen betonen im gedehnteren Erzählen der neuen Serien das kompensatorische Moment und sehen darin eine Art zweiter Slow-Food-Bewegung, als Ausgleich zum hyperventilierenden, durch Multitasking geprägten Alltag. Die anderen betrachten dieselben Serien als Ausgründungen der neoliberalen Arbeitswelt, für die sie uns ertüchtigten. Geradezu verschwörungstheoretisch mutmaßen manche Medientheoretiker, mit der Figur des Showrunners habe sich die Branche einen Popanz geschaffen, um ihre in Wahrheit dezentralen und partizipativen Herstellungsbedingungen zu verschleiern und das eingelullte Publikum auf das kapitalistische Paradigma einzuschwören. Und beides ist irgendwie richtig.

Die Struktur von Serien ist rekursiv

Einerseits scheint die Serie schon qua Genre das akkurate Abbild einer Lebenswirklichkeit zu sein, die mit ihren Playlists und Excel-Tabellen, ihren Zeitverträgen und Patchwork-Biografien zunehmend selbst serielle Züge trägt. Andererseits verlangt die komplexe Narration der neuen Serien in der Tat eine erhöhte Lesefähigkeit. Allein die geradezu mikroskopische Mühe, die nötig ist, um sich in die dynastischen Feinverästelungen mancher Fernseherzählungen einzufädeln, wirkt da lerntherapeutisch, bisweilen allerdings auch nur sedierend. Das scheint Richard Sennett recht zu geben, der argumentiert, das Narrative heile durch Struktur, nicht durch direkte Lebenshilfe. Die Struktur von Serien ist rekursiv, sie deklinieren ihre Themen auf verschiedenen Ebenen durch und spiegeln ihre Inhalte in der Form. "Mise en abyme" nennt man das Verfahren in der Erzähltheorie.

Am prägnantesten kommt der ambivalente Status des neuen Fernsehens zum Ausdruck, wenn sich die Ereignisse plötzlich überschlagen und nach wahren Orgien unsäglicher Redundanz mit einem Mal das Tableau abgeräumt wird. Der französische Philosoph Roland Barthes hat diesen semiotischen Bruch einst als "punctum" beschrieben. Ganze Familienzweige, deren Filiationen über Staffeln hinweg minutiös entwickelt worden sind, werden etwa in "Game of Thrones" einfach ausgelöscht. Und in "Mad Men" steigt Don Draper von einer Folge auf die nächste aus seiner Werbeagentur aus und gründet eine neue, die Fortsetzung der alten ist. Oder ein Aufsitzmäher führt, als hätte sich ein entlaufener Splatter-Regisseur in die Madison Avenue verirrt, eine so blutige wie drastische Wendung herbei. In solchen Momenten wird die Handlung gleichsam rebootet, um sich wiederholen zu können.

Im gediegenen Roman des 19. Jahrhunderts hatte der Cliffhanger aufschiebende Wirkung. Im neuen Fernsehen von heute aber stürzen die Figuren tatsächlich ab, wenn auch nur, um wie Don Draper im Vorspann von "Mad Men" wieder in einem weichen Sessel zu landen. Das Fehlen eines Telos, eines klaren Ziels, auf das sich die Dinge hinbewegen, dieses Gesetz der Serie ist wohl die historische Wahrheit über den rasenden Stillstand unserer Zeit. Ihn freilich hätte ein Balzac sich nicht träumen lassen.

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