Erik van Lieshout in Hannover:Der Horror-Clown

Erik van Lieshout in Hannover: Die Schärfe der Videoarbeiten überträgt van Lieshout in Collagen wie „Untitled“, 2017 (Detail).

Die Schärfe der Videoarbeiten überträgt van Lieshout in Collagen wie „Untitled“, 2017 (Detail).

(Foto: Courtesy der Künstler)

Sozialdemokratie für Museumskatzen: Der Kunstverein Hannover richtet dem niederländischen Kunstkomiker Erik van Lieshout, 49, seine erste große Retrospektive in Deutschland aus.

Von Till Briegleb

Wenn es heute eine Wiedergeburt des Till Eulenspiegel gibt, dann heißt sie Erik van Lieshout. Der holländische Kunstkomiker zieht durch die Welt, stellt sich naiv und entlockt auf diese Weise Menschen freimütige Bekenntnisse, die große gedankliche Missstände entlarven.

Berühmt in Deutschland wurde er durch eine hölzerne Videobox, die er 2006 zur Berlin-Biennale auf die Auguststraße gestellt hatte, um seinen Film "Rotterdam-Rostock" zu zeigen. Auf dieser Wackelbilder-Radtour mit Liebeskummer ins Land von Lichtenhagen unterhält er sich mit freundlichen Seniorinnen über den Einfluss der Juden, mit derben Kneipenbekanntschaften über Hitler und die Zerstörung Deutschlands durch die Amerikaner, oder partizipiert mit klopfendem Herzen am handgreiflichen Alltag einer Gruppe Rostocker Neonazis.

Mit dieser Eulenspiegelei - die auch heute noch schockierende Ansichten eines faschistischen Unterstroms im deutschen Denken bereithält - begrüßt van Lieshout die Besucher auch in seiner ersten großen Retrospektive in Deutschland im Kunstverein Hannover. "Sündenbock" heißt der große Video-Parcours durch dilettantisch gezimmerte Lattenkonstruktionen, die mit hässlichen Teppichcollagen beklebt sind. Darin behandelt dieser Horror-Clown für das beruhigte Gewissen mit Selbstversuchen große Zeitthemen wie Kunst, Liebe, Faschismus, Katzen, Sex oder Rassismus.

In der Doppelarbeit "Dog" etwa lässt er einen sympathischen jungen Mann aus Sierra Leone, der in Holland Asylrecht genießt, in Gangster-Rap-Manier prahlerisch monologisieren über das Abknallen Unschuldiger, das er daheim betrieben habe, während er auf der Leinwand daneben das Schicksal des russischen Dissidenten Aleksandr Dolmatov thematisiert. Durch einen Computerfehler wurde dem Putin-Gegner, der sich in Russland bedroht fühlte, 2013 das Asyl in Holland verweigert, worauf er sich das Leben nahm.

Diese Gegenüberstellung verträgt sich nicht mit der gängigen Helfermoral von armen Schwarzen und privilegierten Weißen. Van Lieshout geht es um Momente gesellschaftlicher Heuchelei, die er mit einer Kombination aus aggressivem Witz, politisch unkorrektem Verhalten und ironischen Kommentaren hervorlockt.

Das sind keine harmlosen Scherze mit Augenzwinkern, in denen sich van Lieshout selbst als Sündenbock anbietet, auch wenn es zunächst so aussieht. Der so freundlich dreinblickende Glatzkopf versucht vielmehr, normal wirkende Situationen in aller Unschuld so weit zu treiben, dass verborgene Konflikte erscheinen. Dabei schont er nicht einmal die eigene Familie. In seinem Video für die Biennale in Venedig 2014 konfrontierte er Eltern und Geschwister, die fast alle in sozialen Berufen arbeiten, mit unangenehmen Gewissensfragen und veröffentlichte die teils peinlichen Szenen schonungslos.

Seine Arbeit für die Manifesta in Sankt Petersburg 2014 führte ihn in den Keller der Eremitage, wo ungezählte Katzen hausen. In diesem übel riechenden und niedrigen, mit Heizungsrohren und anderen Installationen verbauten Labyrinth betreuen zwei ältere Damen die Tierarmada, die einst zur Mäusejagd im Museum angeschafft wurde. Van Lieshout baute den abgerissenen Viechern eine katzengerechte Kletter- und Wohlfühlwelt, schuf eine Porträtgalerie der vierbeinigen Bewohner und klärte sie mit selbstgebastelten Wandplakaten über das Unrecht im Putinstaat auf.

Mit dieser "sozialdemokratischen" Reformarbeit für eine elende Haustiergesellschaft führt van Lieshout die Absurdität eines Ordnungsstaates vor, der nur so tut, als verbessere er die Zustände. Das war den russischen Zensoren so unheimlich, dass sie den ganzen Film sehen wollten, bevor er in Sankt Petersburg gezeigt werden durfte.

Den harten Witz dieser Videoarbeiten überträgt van Lieshout anschließend noch in Zeichnungen oder grellfarbige Collagen, die in Hannover parallel zu den Videos gezeigt werden. Darin erscheint eine fratzenhafte Welt aus Symbolfiguren, von Models und Spongebob zu Merkel und Trump, von Krishna bis zu pickeligen Jungnazis. Als ätzende Karikaturen einer Welt, in der es nur um Selbstdarstellung geht, sind diese Bilder besonders gemein. Und der Eulenspiegel befindet sich stets mittendrin. Denn seine Selbstinszenierung als Sündenbock für scheinheilige Friedlichkeit ist natürlich ebenfalls ziemlich eitel. Aber als guter Harlekin lacht van Lieshout eben auch über sich selbst, vielleicht sogar am lautesten.

Erik van Lieshout: Sündenbock. Kunstverein Hannover. Bis 19. November. www.kunstverein-hannover.de.

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