"Entlang den Gräben":Das westdeutsche Staunen des Navid Kermani

"Entlang den Gräben": Ein Neubau, erstanden aus den Ruinen des Tschetschenien-Krieges: die Achmat-Kadyrow-Moschee in Grosny.

Ein Neubau, erstanden aus den Ruinen des Tschetschenien-Krieges: die Achmat-Kadyrow-Moschee in Grosny.

(Foto: AFP)

Für seinen neuen Reportage-Band ist der Autor von Polen bis in den Iran gereist. Die untergegangene Sowjetunion bleibt für ihn eine Leerstelle - dafür entwickelt er eine fragwürdige Begeisterung für deutsche Vornamen.

Von Sonja Zekri

Wie ist der neue Kermani? Fragen wir ihn doch einfach selbst. Im Abspann, also in den Danksagungen, fasst er die größten Vorzüge seines jüngsten Werkes zusammen. Er danke dem Spiegel für die finanzielle und redaktionelle Unterstützung, schreibt er, denn ohne sie wäre sein Buch "weniger dicht, weniger informativ, weniger relevant" geworden. Zu dieser wohlwollenden Perspektive auf das eigene Schaffen passt, dass Navid Kermani sein Buch nicht etwa mit Widmungen oder Zitaten anderer Autoren einrahmt, sondern mit Auszügen aus einem seiner Bücher. So ausgestattet hat es "Entlang den Gräben" trotz eigenwilliger Titel-Grammatik aus dem Stand auf die Bestseller-Listen geschafft.

Navid Kermani ist im Auftrag des Spiegel durch den Osten Europas gereist, durch Polen, Weißrussland, die Ukraine und über die Krim, quer durch den Kaukasus bis in den Iran. Ein Drittel dieser Reportagen wurde bereits gedruckt, zwei Drittel waren unveröffentlicht. Zwar beruhen die Texte auf verschiedenen, an- und absetzenden Reisen, doch ordnet er sie im Buch zu einer durchgehenden Route von 54 Tagen an. Man ahnt ein wenig Willkür der Sortierung. Es leuchtet nicht ein, warum er sich gerade für diese Dauer und diese Etappen entschieden hat. Aber das ist nicht das Entscheidende.

Manchmal hat dieses Abgleichen von Lektüre und Wirklichkeit etwas Entwaffnendes

Legt man Kermanis Route zugrunde, so ergeben sich je ein Tag Aufenthalt für Kaunas, Kiew und Grosny, je zwei Tage für Tiflis und Jerewan, ein paar Stunden für Moskau und drei Tage für Teheran. Kurz, Navid Kermani hat eine völlig neue journalistische Form aus der Taufe gehoben: die Hochgeschwindigkeitsreportage. Natürlich ist es, begreift man das Reisen als Form des Erkenntnisgewinns, der schiere Wahnsinn, auf so halsbrecherische Weise durch ein Gebiet von diesen - topografischen, historischen und politischen - Dimensionen zu hasten. Aber man muss Kermani lassen, dass er durchaus Schritt mit sich selbst hält. Er ist ein fleißiger, neugieriger und strapazierfähiger Reporter, hockt in den Schützengräben des Donbass, besucht Gottesdienste in mindestens einem Dutzend Kirchen, Moscheen und Synagogen und bestaunt in Bergkarabach einen nagelneuen Flughafen, von dem noch nie ein Flugzeug gestartet ist.

Der Spiegel hat ihm kluge Begleiter und ein fantastisches Casting beschert - Oppositionelle, Minister, Chorleiterinnen, Designerinnen, Literaten, Soldaten, Architekten. Und Kermani erweist sich als aufmerksamer, aber durchaus widerspruchsbereiter Zuhörer, was zu interessanten Momenten führt. So streitet er mit dem weißrussischen Philosophen Valentin Akudowitsch über Wohl oder Wehe des Nationalismus. Während Kermani den modernen Nationalismus für Kriege, Vertreibungen und das aktuelle Elend der Populisten verantwortlich macht, lobt der Weißrusse den Nationalismus als "angemessenste Organisationsform für Gesellschaften": "Als ob es vorher keine Massenmorde gegeben hätte! Denken Sie nur an den Mongolensturm."

Kermani hat ein paar Standardwerke gelesen, vor allem Timothy Snyders "Bloodlands", und so reist er zu Beginn vor allem zu den Gräberfeldern und ehemaligen Lagern, Gedenkstätten und anonymen Mordplätzen. Durchaus ehrenwert ist dies der Versuch, auf seiner Reise die dunklen Kräfte, die zuweilen verdrängte Vergangenheit Osteuropas ernst zu nehmen. Doch so wenig man eine Region versteht ohne die Geschichte ihrer Katastrophen, ihres Leids und ihrer Verbrechen, so wenig erklären allein Katastrophen, Leid und Verbrechen eine Region vollständig. Die Unterbelichtung der Gegenwart, auch mancher positiver Entwicklungen der letzten Jahre, führt zu einem Geisterbahn-Effekt. Ob der Orientalist Kermani glücklich wäre, wenn ein Westeuropäer auf diese Weise die Schädelstätten des Nahen Ostens abhaken würde?

Manchmal schießt er mit seiner Begeisterung für die deutsche Kultur übers Ziel hinaus

Kermani macht keinen Hehl daraus, dass ihn die Reise in unbekanntes Terrain führt, und manchmal hat sein Abgleichen von Lektüre und Wirklichkeit etwas Entwaffnendes. Dass die Masurische Seenplatte wirklich so aussieht wie bei Siegfried Lenz, und die Krim bei Regen an das Siegerland erinnert - wer hätte das gedacht? Das Staunen dieses Reisenden ist ein durch und durch westdeutsches Staunen, und nie ist es westdeutscher als in Auschwitz, wo er einer deutschsprachigen Reisegruppe zugeordnet wird. Manchmal schießt er mit seiner Begeisterung für die deutsche Kultur auch übers Ziel hinaus. Auf einem Soldatenfriedhof auf der Krim geht ihm plötzlich auf, "wie schön deutsche Namen eigentlich sind: Heinrich, Johann, Albert ...". Heinrich? Im Ernst?

Westler versus Slawophile? Aktuell ist der Iphone-Hipster in der Putin-Jugend die Figur der Stunde

Aber Kermani ist sich seiner Stellung als, spitz ausgedrückt, offizieller Lieblingsmuslim der Deutschen viel zu bewusst, um es dabei zu lassen. Im georgischen Hotel fragt ihn ein israelischer Tourist nach seiner Herkunft. Kermani überlegt, "welche Antwort die interessantere Reaktion hervorrufen wird", sagt dann "Iran" und lächelt "betont friedfertig", während der andere aufschreit. So spielerisch wurde die oft grobschlächtige Identitätsdebatte selten auf den Stand gebracht.

Dennoch stellt sich nach und nach ein Unbehagen, ein perspektivischer Mangel ein, der nicht nur mit Kermanis zum Teil drastischen Fehleinschätzungen zu tun hat. Nein, der inzwischen staatenlose georgische Gernegroß Michail Saakaschwili ist keine Hoffnung Europas. Ja, es gab nach dem Zerfall der Sowjetunion auch einen üblen georgischen Nationalismus, der die kleinen Provinzen Russland in die Arme trieb, wo sie - trotz des Krieges, den Saakaschwili vom Zaun gebrochen hatte - bis heute bleiben. Nicht jeder Klassiker hilft, eine fremde Gesellschaft zu verstehen, und wer Leo Tolstois Alterswerk "Hadschi Murat" als Tschetschenien-Exegese begreift und nicht - wie alle russische Kaukasus-Literatur - als indirekten Kommentar zu Russland selbst, der wird immer an der Oberfläche bleiben. Aber Kermani macht um Russland einen Bogen und bei seiner Stippvisite in Moskau beschränkt er sich auf ein eher mechanisches Hantieren mit dem alten Gegensatz von Westlern und Slawophilen, wo doch das Charakteristikum des heutigen Russland gerade darin liegt, dass man beides in einem sein kann - ein iPhone-Hipster in der Putin-Jugend.

Das weit gravierendere Defizit dieser Reise in den Osten liegt darin, dass Kermani nirgends, an keiner Stelle ein Verständnis und historisches Bewusstsein für jenes Gebilde erkennen lässt, das die Region siebzig Jahre zusammengehalten hat: das Menschheitsversprechen und Menschheitsverbrechen der Sowjetunion. Dass Ukrainer und Krimtataren, Weißrussen und Tschetschenen, Armenier und Aserbaidschaner einer Kultur- und Konsumgemeinschaft angehörten, gemeinsamen Idealen anhingen und gemeinsamen Zwängen gehorchten, dass sie "ein Raum" sind, dafür findet Kermani keinen Ausdruck.

Dafür stichelt er hier und dort gegen die Volksbühne und das Regietheater. Er wird doch nicht seine nächste Entdeckungsreise nach Berlin machen?

Navid Kermani: Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan. C.H. Beck Verlag, München 2018. 442 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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