Entdeckung einer Jazz-Sängerin:Warten auf Gardot

Die unglaubliche Geschichte einer 23-Jährigen aus Philadelphia: Vom Krankenbett aus startete Melody Gardot eine Karriere als Jazzsängerin.

Martin Zips

Ein Hotelzimmer am Berliner Alexanderplatz, 17. Stock. Draußen: strahlender Sonnenschein. Drinnen: zugezogene Vorhänge. Duftkerzen brennen, aus dem Laptop ertönt Jazzmusik. Allerlei Cremes und Salben liegen herum.

Entdeckung einer Jazz-Sängerin: Melody Gardot: Der Erfolg kam nach dem Unfall.

Melody Gardot: Der Erfolg kam nach dem Unfall.

(Foto: Screenshot: sueddeutsche.de)

Eine hübsche junge Frau mit Sonnenbrille tritt aus dem Bad. Ihre Lippen sind knallrot geschminkt, ihr langes blondes Haar fällt ihr ins Gesicht. Sie trägt einen kurzen schwarzen Minirock und ein knallenges schwarzes Oberteil.

Auf den wenigen Metern vom Badezimmer zum Tisch benutzt die 23-Jährige einen Krückstock. Das sieht etwas merkwürdig aus, so eine hübsche junge Frau mit Stöckelschuhen und Krückstock. Als Kind hätte man jetzt wahrscheinlich Angst gehabt. Als Heranwachsender hätte man das Stottern begonnen. Und als Erwachsener denkt man sich: Öha. Amerikanische Künstlerin. Mit allerlei Ticks halt. Aber irgendwie 'ne gute Show. Es ist aber gar keine Show.

Das Publikum war schon unruhig

Die Show liegt schon ein paar Stunden zurück. Da hatte die Jazzsängerin - die sich nicht nur als Künstlerin Melody Gardot nennt, sondern tatsächlich so heißt - mit einer halben Stunde Verspätung die Bühne eines Clubs in der Friedrichstraße betreten.

Das Publikum war schon unruhig geworden, hatte gepfiffen und ungeduldig die leere Bühne beklatscht, um danach demonstrativ zu schweigen. Eigentlich war das eine ziemlich miese Stimmung für eine Deutschlandpremiere.

Aber dann passierte etwas Unglaubliches. Sonnenbrillenträgerin Gardot humpelte am Stock auf die Bühne, schnippte ein bisschen mit den Fingern, haute den Stöckelabsatz auf den Boden und sang dazu a cappella mit einer Jazzstimme, die Norah Jones und Diana Krall weit hinter sich lässt.

Später Beginn, frühes Ende

Das Warten auf Gardot hatte sich gelohnt. Später ließ sie sich von drei herausragenden Musikern begleiten. Nach nur 50 Konzertminuten verschwand sie wieder. Neben dem späten Beginn ist das der einzige Kritikpunkt an diesem Konzert.

"Sie müssen das verstehen", sagt Gardot jetzt in ihrem Hotelzimmer hoch über dem Alexanderplatz. "Ich war hundemüde und mir tat alles weh. Ich konnte einfach nicht mehr." Dass sie bereits seit einigen Monaten von ihrer Plattenfirma um die Welt geschickt werde, sei für sie einerseits ja eine tolle Sache. Andererseits: Ihre Ärzte seien davon nicht begeistert.

Gardot leidet noch immer an den Folgen eines Unfalls, der vor vier Jahren ihr Leben komplett umgekrempelt hat. Ein Jeep-Fahrer hatte das Fahrrad der damaligen Modedesign-Studentin gerammt.

Nur knapp überlebt

Es war an einem kalten Novembertag in Philadelphia, und Gardot war gerade auf dem Weg nach Hause. Das 19Jahre alte Mädchen krachte auf den Asphalt. Mit schweren Hüft-, Wirbelsäule- und Kopfverletzungen hatte sie nur knapp überlebt, musste aber viele Monate im Krankenhaus und auf der Reha-Station verbringen.

Teile ihres Körpers seien anfangs gelähmt gewesen, erzählt sie, ihr Kurzzeitgedächtnis habe ständig ausgesetzt. Als einer ihrer Ärzte davon hörte, dass Gardot vor ihrem Unfall in einer Bar mit Klavierspiel ihr Taschengeld aufgebessert hatte, riet er ihr, sich vom Krankenbett aus weiter mit Musik zu beschäftigen.

Musik stimuliere die geschädigten Nerven und wirke sich günstig auf eine Gesundung aus.

Gegen den Willen im Internet veröffentlicht

Mit einem tragbaren 8-Spur-Aufnahmegerät auf ihrem Nachttisch experimentierte Gardot also ein bisschen herum. Sie textete, komponierte, nahm ihren Gesang auf und ihr Gitarrenspiel.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie Melody Gardot von Grammygewinner Glenn Baratt entdeckt wurde.

Warten auf Gardot

Ihre Kompositionen nannte sie ironischerweise "the bedroom sessions". Ein Freund veröffentlichte die Aufnahmen ("gegen meinen Willen") im Internet, ein lokaler Radiosender nahm sie ins Programm.

"Plötzlich meldeten sich Leute bei mir und wollten meine CD kaufen. Ich hatte aber gar keine CD", sagt sie in ihrem düsteren Hotelzimmer. Produzent und Grammygewinner Glenn Baratt bot ihr an, ihre Stücke auf CD zu veröffentlichen. Im Studio warteten schon Musiker, die zuvor mit Aretha Franklin, Billy Joel oder Harry Connick Jr. gearbeitet hatten. Nun spielten sie die Songs aus Melodys Krankenzimmer, und Melody sang dazu.

Muskelkrämpfe

In den USA erschien ihr Album "Worrisome Heart", die CD gewordenen Bedroom-Sessions, schon vor zwei Jahren. Nun ist Europa dran. Kürzlich durfte Melody sogar in der Londoner Royal Festival Hall singen.

Ihr neues Leben bereite ihr großen Spaß, sagt sie. Trotz der Schmerzen, von denen sie immer noch geplagt wird. Ein elektronischer Impulsgeber lindert ihre Muskelkrämpfe, eine große Sonnenbrille und zugezogene Vorhänge schützen ihre lichtempfindlichen Augen.

Manchmal verwendet sie Ohrstöpsel. Weil auch Lärm sie seit dem Unfall krank macht. Ihre Tourassistentin ist gleichzeitig ihre Bewegungstherapeutin.

Teure medizinische Behandlung

Musik, sagt Gardot und zeigt am Laptop den Text eines neuen Liedes, helfe ihr wirklich. Außerdem sei ihre Karriere auch eine Möglichkeit, die 100.000 Dollar, die ihre Behandlung gekostet habe, abzustottern. Einen ausreichenden Versicherungsschutz habe sie als Studentin nämlich nicht gehabt. Und der Jeep-Fahrer habe nach dem Unfall Fahrerflucht begangen.

Ein bisschen verdanke sie ihre Geschichte aber auch ihrer Großmutter. Die sei einst von Polen in die USA ausgewandert, "wann und warum, darüber hat sie nie mit uns gesprochen".

Weil Melody Gardots Mutter ("wer mein Vater ist, das habe ich nie erfahren") viel arbeitete, passte die Großmutter oft auf das Kind auf. "Und weil sie manchmal nicht wusste, was sie mit mir anfangen sollte, zeigte sie mir immer wieder denselben Videofilm: "The Wizard of Oz". Irgendwann fand ich ihn und seine Musik total nervig."

Ein Gruß in den Himmel

Heute aber gehört eine Bossa-Nova-Version von "Somewhere over the rainbow", dem berühmten Lied aus dem Film, zu ihrem Repertoire. Bevor sie mit ihrer rauchigen, schönen Stimme diesen Song auch in Berlin sang, schickte sie einen Gruß für ihre Großmutter in den Himmel. Dann nahm sie ihren Krückstock und humpelte davon.

Was für eine Show.

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