Englische Literatur:Wie man Rauchfahnen hisst

Lesezeit: 4 min

Erstmals auf Deutsch: Hilary Mantels frühe Romane über das englische Unglück auf dem Weg in die Thatcher-Ära.

Von Burkhard Müller

Dies ist ein Buch in Beige. Isabel, Sozialarbeiterin und Hauptfigur, kleidet sich gern in einen beigefarbenen Trenchcoat. Die Akte, die ihren beunruhigendsten Fall enthält, den der behinderten Muriel Axon und ihrer unkooperativen Mutter Evelyn, verwahrt sie in einer braungelben Mappe. Die Häuser der Gegend, in der die beiden wohnen, zeichnen sich durch schwere gelb-cremefarbene Netzvorhänge aus.

Und der Verlag hat für Hilary Mantels Roman "Jeder Tag ist Muttertag", der im Original 1985 erschien, einen monochrom beigen Umschlag gewählt, mit dem Bild einer geöffneten etikettenlosen Konservendose in Grau, gewiss das trübseligste Buch-Design der Saison. Willkommen im England der Siebzigerjahre. Niemand, der in diesem Zeitalter der schlechten Küche, defekten Heizungen und laienhaft gestutzten Ligusterhecken lebte, ist zu beneiden.

Die Verlagswerbung verheißt, indem sie eine Kritik der New York Times zitiert, einen "rasanten Cocktail aus Grauen und wilder Schadenfreude". Das ist eine glatte Falschmeldung. Denn weder sieht Hilary Mantel auf das, was den Leuten in ihrem misslingenden Leben widerfährt, mit Schadenfreude noch auch wendet sie sich ab mit Grauen. Dieses Buch ist etwas weit Besseres, weil Schlimmeres: Es zwingt sich und seinen Leser, hinzusehen und zu begreifen, was solches Elend wirklich bedeutet, wenn man es jahrein, jahraus durchzustehen hat. Man erträgt es kaum, und muss Mantel doch bewundern für die Treue, die sie ihren Figuren hält.

Wenn der Leser einem Menschen wie Muriel leibhaftig begegnete, er würde Reißaus nehmen

Am meisten tut diese Sichtweise für die zurückgebliebene Muriel, eine massige stille Frau, die in mürrischer Symbiose mit ihrer verhärmten Mutter lebt. Was an ihrem Zustand intellektuelle und was seelische Verkümmerung wäre, lässt sich nicht trennen; an ihrem Misstrauen gegen alles, was von außen kommt, haben Denkschwäche und Unwillen gleichen Anteil. Dazu passt die aus der ewigen Defensive geborene arglistige Schlauheit, die sich nicht zuletzt gegen die Mutter kehrt. Wenn der Leser einem Menschen wie Muriel in Fleisch und Blut begegnete, er würde das Weite suchen; im Buch kommt er nicht los von ihr. Plötzlich ist sie schwanger: das große Geheimnis dieses Romans, denn wie hätte eine solche Frau einen Mann nicht nur kennenlernen, sondern gar bezirzen können? Es versteht sich, dass Muriel selbst keine Auskunft erteilt.

Nichts wäre leichter gewesen, als die ebenso penetranten wie hilflosen Bemühungen des Sozialamts der Empörung oder Lächerlichkeit preiszugeben. Was soll es nützen, die passiv aggressive Muriel zu Kursen in Töpfern und Korbflechten abzuholen? Miserable Körbe und Töpfe kommen heraus und sonst nichts. Man versteht die Sozialarbeiterin Isabel, die keine Wahl hat, als auf bedrohliche Weise in fremdes Privatleben einzudringen - das ist ihr Job - genauso gut wie Axon Mutter und Tochter, die solche bevormundend wohlmeinenden Anstrengungen gezielt ins Leere laufen lassen. "Als ob Leute unserer Klasse das Sozialamt bräuchten."

Die Klasse, wie sie hier erscheint, diese typisch englische Klasse, hat mit tatsächlicher sozialer Position nichts zu tun; sie ist das Letzte, was den Scheiternden bleibt, wie die Rauchfahne eines schon gesunkenen Schiffs. Isabel, unglücklich und überfordert, hält die zwei Handlungsstränge des Buchs zusammen. Sie belegt einen Kurs für kreatives Schreiben. Dabei lässt sie sich auf eine Affäre mit Colin ein, einem Vater von drei Kindern und bald auch noch eines vierten, das seine Ehefrau ihm in aller Unschuld andreht, Geschichtslehrer auf hoffnungslosem Posten.

Mit ihm durchleidet Isabel die klassische Tragik des verheirateten Mannes, der nicht mit seiner Familie leben kann, ohne sie aber erst recht nicht. Dass es nicht anders geht, dass alles genauso trostlos sein muss, wie es ist, dass auch und gerade Feigheit nicht Wahl bedeutet, sondern Schicksal, ohne darüber aufzuhören, schuld zu sein: Dem Leser drückt es das Herz ab, nicht anders als denen, die es hier trifft. Es ist ein britisch dezentes, ein kluges, ein emotional sehr starkes Buch.

Hilary Mantel: Jeder Tag ist Muttertag. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont Verlag, Köln 2016. 255 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 18,99 Euro. (Foto: a)

Ihre Grausamkeit aber reserviert die Autorin für zwei exakt umschriebene Personengruppen: die Intellektuellen - und die Kinder. Colins Sprösslinge, drei bis acht Jahre alt, präsentieren sich in ebenso erbitternder wie erfrischender Weise als Satansbraten, die wohl jeder gern verließe. Da herrscht statt beiger Zweideutigkeit ein klares Rabenschwarz - kleine Erholung in einem großen Buch, das weiß, wann es seine hochgespannt tränenlose Trauer durch rücksichtsloses Lachen entspannen muss.

Als nicht ganz glückliches Arrangement muss man es bezeichnen, dass Mantels deutscher Verlag diesem Band sogleich die Fortsetzung auf den Fuß folgen lässt (schieferfarben diesmal). Im englischen Original war zwischen beiden immerhin ein Jahr vergangen, in dem die Neugier anwachsen konnte, wie es weitergeht. "Im Vollbesitz des eigenen Wahns", das klingt wenigstens in der deutschen Version nach Kriminalkomödie (englisch dezenter: "Vacant Possession"), nach Arsen und Spitzenhäubchen, und in diese Richtung driftet es auch wirklich. Die Vergnüglichkeit erhöht sich auf Kosten des menschlichen Ernsts, der zur literarischen Qualität des ersten Bandes entscheidend beigetragen hatte.

Die Aktionskurve steigt, immer steiler und schriller, bis sie gegen Ende so etwas wie Horror-Slapstick hervorbringt. Das Personal ist im Wesentlichen das gleiche geblieben, die Szene um zehn Jahre verschoben, der nordenglische Trübsinn der Siebziger verschärft zur apokalyptischen Stimmung der Thatcher-Jahre. Jeder hat es sich in seinem Unglück so bequem gemacht wie möglich, Colin mit Gattin Sylvia und seinen vier Kindern, die älter und noch unausstehlicher geworden sind, Isabel mit einem Neutrum von Bankangestellten. Aber da haben sie ihre Rechnung ohne Muriel gemacht. Muriel, die eingesperrte Tochter und Mutter, hat sich ihrer Mutter wie ihres Kindes auf mörderischem Wege entledigt und zieht nun aus, um das Leben derjenigen zu zerstören, die sie nicht ohne Grund für die Schuldigen ihrer Misere hält. Die Schwierigkeit, dass sie hierfür von der passiven Aggression zur äußerst aktiven Niedertracht übergehen muss, löst Mantel auf dem Weg von Muriels gespenstischer Fähigkeit zur Nachahmung anderer Personen; so wird sie fähig, in Colins Haushalt die treue Perle Lizzie Blank abzugeben, im Krankenhaus aber das selbstverleugnende Seelchen Mrs Wilmot.

Hilary Mantel: Im Vollbesitz des eigenen Wahns. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont Verlag, Köln 2016, 285 Seiten, 23 Euro, E-Book 18,99 Euro. (Foto: a)

Plakate, die vor Kartoffelkäfern warnen, werden zur Reklame für herrlich teuflische Tiere

Das funktioniert wider Erwarten und schenkt, wie es die Figur des rationalen Irren ja fast immer tut, dem Buch viele gute gruslige Momente. Nur ein kleines Beispiel: Die weltunerfahrene, aber im Bösen stets aufgeschlossene Muriel trifft auf Plakate, die vor den Verheerungen des Kartoffelkäfers warnen, schließt aus der Abbildung, dieses herrlich teuflische Tier müsse ungefähr Kätzchengröße haben, und macht sich auf die Suche nach einem geeigneten Käfig, denn solch ein Wesen würde sie sich gern als Haustier halten. Die Figuren sind immer noch glaubhaft, der Plot effektiv, aber abhängig von den schrägsten Zufällen, in einem Wechselbad des Lustigen und des Traurigen; und so ist dieser zweite Teil ein interessantes, problematisches Mischwesen geworden.

Zu fragen bleibt, warum diese zwei ebenso fesselnden wie zeitbedingten Bücher aus dem nahen und jüngst schwierig gewordenen Großbritannien erst jetzt ihren Weg ins Deutsche gefunden haben: Vor dreißig Jahren hätten wir vermutlich mehr davon gehabt. So bietet sich dieses Doppel-Werk dar wie eine Art Charles Dickens des späten zwanzigsten Jahrhunderts.

© SZ vom 29.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: