Englische Literatur:Feingeister in C-Moll

Ein Panoptikum der hoffnungslosen Fälle zwischen 17 und 73 Jahren: Der britische Autor David Szalay rechnet in seinem Roman "Was ein Mann ist" mit der Spezies ab, der er selber angehört.

Von Kristina Maidt-Zinke

Die Frage "Wann ist ein Mann ein Mann?" wurde erstmals von Herbert Grönemeyer gestellt, und zwar im Orwell-Jahr 1984. Wer damals schon alt genug war, um Deutschrock zu hören, muss beim Anblick des Romantitels Was ein Mann ist sofort daran denken. Was jedoch in die Irre führt, denn das Buch, das 2016 auf die Shortlist des Man-Booker-Preises kam und Kritiker im angelsächsischen Sprachraum (lauter Männer) schwer beeindruckte, heißt im Original All That Man Is. Das wiederum ist ein Zitat aus dem Gedicht Byzantium des irischen Literaturnobelpreisträgers William Butler Yeats und bezieht sich, dort jedenfalls, auf "den Menschen" oder "die Menschheit".

Die Protagonisten sind zwischen 17 und 73 Jahre alt, und alle sind Männer

Mit der genderpolitisch unkorrekten, ja übergriffigen Doppelbedeutung des englischen Wortes "man", an der alle Sprachputzkolonnen bisher abgeprallt sind, hat David Szalay, britischer Autor mit ungarisch-kanadischen Wurzeln, kein Problem. Aber auch nicht damit, dass im deutschen Titel seines vierten Prosawerks die Ambivalenz einfach weggeputzt wurde. Denn es gehe ja, sagte er im Interview, in dem Buch "auf gewisse Weise eindeutig um Männer im Gegensatz zu Frauen".

Auf gewisse Weise eindeutig lässt sich auch die Frage beantworten, ob wir es wirklich, wie der englische und der deutsche Verlag behaupten, mit einem "Roman" zu tun haben: Jein. Wann ist ein Roman ein Roman? Darüber wird schon lange und fruchtlos gestritten. Sicher ist, dass ein Buch sich besser verkauft, wenn "Roman" draufsteht.

Szalay legt neun Kurzgeschichten vor, die durch eine konzeptuelle Klammer locker verbunden sind. Jede erzählt von einem Mann in einer kritischen Episode seines Lebens. Jeder von ihnen ist fünf bis zehn Jahre älter als der vorige, und passend zum fortschreitenden Alter der Protagonisten zwischen 17 und 73 folgen die Geschichten, sämtlich in der jüngeren Gegenwart spielend, einer Monats-Chronologie von April bis Dezember. Ein Zusammenhang wird ferner dadurch gestiftet, dass all diese Männer Europäer sind und auf Reisen in einem Europa ohne Grenzen, dass sie erotische oder finanzielle Probleme oder beides haben und dazu jeweils altersspezifische Krisensymptome, die das männliche Selbstwertgefühl, aber auch die Frage nach dem Sinn des Lebens betreffen. David Szalay, Mittvierziger und kosmopolitisch sozialisierter Oxford-Absolvent, versetzt sich couragiert in sie alle hinein und entfaltet so ein buntes Spektrum von Nationalitäten und sozialen Milieus.

Illustrationen zur Literaturbeilage 13.3.2018
(Foto: Job Wouters)

Da ist etwa der junge Franzose Bernard, Lokführersohn aus dem Arbeiterdistrikt von Lille, Studienabbrecher und Ego-Shooter-Fan, unattraktiv, perspektivlos und hormongesteuert. Er schmeißt einen Aushilfsjob hin, um sich eine Billig-Pauschalreise nach Zypern zu gönnen, und landet dort, mangels besserer Gelegenheiten, mit einer adipösen Engländerin und ihrer "noch viel dickeren" Tochter im Bett.

Die Ödnis der vorgefertigten Urlaubswelt, die Bizarrerie der sexuellen Vorgänge und die Unbedarftheit des Jünglings schildert Szalay aus der Sicht eines gnadenlosen Beobachters, dem es indes nicht an Empathie mangelt, an einem halb ironischen, halb aufrichtigen Mitgefühl für die Qualen seiner Spezies, ihre Einsamkeit, Lächerlichkeit und Traurigkeit. Es ist dieser Ton, in den besten Momenten mit äußerster Lakonie erzeugt, der das Männer-Panoptikum interessant macht, weil er es, wie im englischen Originaltitel vorgesehen, zur allgemein menschlichen Perspektive hin öffnet.

Andererseits geht es durchaus um die Vorführung notorisch männlicher Schwächen wie Feigheit, Größenwahn, Eitelkeit und Selbstmitleid. Dabei seziert der Autor seine eigene Klasse, die akademische, mit dem gleichen kühl-teilnehmenden Blick wie seine Geschlechtsgenossen aus anderen Schichten. Der Belgier Karel ist Mediävist mit Wohnsitz in Oxford, ein Feingeist von der Sorte, die beim Anblick des Ortsschildes "Canterbury" mit einem "leisen Schauder der Erregung" denkt: Hier sind Chaucers Pilger entlanggezogen. Er findet es aber auch richtig cool, für den Vater seiner Wochenendbeziehung Waleria einen Luxus-SUV nach Polen zu überführen. Wenn nur der empfindliche Lack nicht wäre - jeder Kratzer eine Katastrophe. Als Waleria ihm unterwegs eröffnet, sie sei schwanger, fällt ihm keine andere Antwort ein als: "So eine Scheiße." Mit ihren Tränen kann er nichts anfangen, er zweifelt die Vaterschaft an, und ihr Entschluss, das Kind zu behalten, ruft ihm die Anfangsverse von Dantes "Göttlicher Komödie" in den Sinn, den finsteren Wald und den Wendepunkt in der Lebensmitte - was an dieser Stelle so larmoyant wie egomanisch wirkt.

Was ein Mann ist

David Szalay: Was ein Mann ist. Roman. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Carl Hanser Verlag, München 2018. 512 Seiten, 24 Euro. E-Book 17,99 Euro.

Literaturzitate und andere Partikel von Bildungsgut verteilt Szalay sparsam, aber präzise und aussagekräftig über seine Erzählungen. Dabei scheut er den Show-Effekt nicht. In der ersten Episode sind zwei respektabel belesene britische Teenager, der noch unerfahrene, kunstaffine Simon und der abgebrühtere, weltlicher gestimmte Ferdinand, per Inter-Rail auf dem Kontinent unterwegs. Im Prager Dom hören sie Mozarts Messe in c-Moll. Nach dem Satz "Die Musik beginnt" folgt eine leere Seite, in deren Mitte nur zwei Wörter stehen: "Die Musik". Anschließend geht es in die Kneipe. Dazu bemerkte der Rezensent des New Yorker treffend, es sei schwer zu entscheiden, ob dies "der brillanteste oder der albernste literarische Trick" sei, der je angewendet wurde, um das musikalisch Erhabene sprachlich zu fassen.

Szalay pflegt noch andere Sprachmanieren, etwa die, kurze Sätze unvermittelt freizustellen, aus der Zeile zu rücken oder zuwiederholen. Mal retardiert oder beschleunigt er damit den Erzählfluss oder deutet eine Art Popsong-Ästhetik an, mal hat man nur den Eindruck einer männlich auftrumpfenden Marotte. Simon kommt später indirekt noch einmal vor, als dichtender Oxford-Student und Enkel des Dezember-Protagonisten, eines schwermütigen alten Engländers, der - atmosphärisch einer der stärksten Texte - im trostlosen norditalienischen Winter mit seinen Lebenslügen konfrontiert wird. Solche Motivverknüpfungen sind wie Ostereier im Buch versteckt, bleiben aber funktionslos.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch "Was ein Mann ist" stellt der Verlag auf seiner Homepage zur Verfügung.

Während die Figuren sich hier nahe der mutmaßlichen Erfahrungswelt des Autors befinden, staunt man über die Virtuosität, mit der er ganz andere Männertypen aufrollt, vom unglücklich verliebten ungarischen Hostessen-Gorilla bis zum lebensmüden russischen Oligarchen, vom skrupellosen dänischen Boulevardjournalisten bis zum einfältigen schottischen Rentner, dessen Traum vom Süden in Kroatien zerbricht. Der September-Mann, ein erfolgreicher, aber frustrierter Londoner Immobilenmakler, bringt auf den Punkt, was sie alle fühlen: "Das Leben ist kein Witz." Etwas melodramatisch, gewiss, aber dazu neigen sie nun einmal, die Männer.

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