Englische Literatur:Der Kriegszitterer auf der Kanzel

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J. L. Carrs meisterhafter Roman "Ein Monat auf dem Lande".

Von Gustav Seibt

Die Idylle, das unschuldige Glück auf dem Land, ist die Nachbarin des Epos, der Erzählung vom Krieg. Hirten waren in der Antike die Antipoden der Helden. Der schöne Schmelz der Pastorale lebte auch vom Kontrast zum Donnergrollen von Stadt und Weltgeschichte. Die Moderne hat Pfarrer, Apotheker und Lehrer an die Stelle der antiken Schafhirten gestellt, aber am Muster wenig geändert. "Ein Monat auf dem Land", die Erzählung des englischen Erzählers J. L. Carr, schon 1980 erschienen, preisgekrönt, sogar verfilmt, und jetzt erst auf Deutsch zu lesen, ist eine klassische, geradezu regelrechte Idylle und darum ein unendlich rührendes Buch.

Es spielt also auf dem Land in einem kleinen nordenglischen Dorf mit alter Kirche. Dort muss auf Wunsch und mit dem Geld einer verstorbenen Lady ein spätmittelalterliches Wandgemälde freigelegt werden. Der dafür beauftragte Restaurator war Soldat, Funkmelder im Ersten Weltkrieg, und zwar an einem seiner höllischsten Punkte, in dem Dorf Passchendaele bei Ypern, wo 1917 die dritte Flandernschlacht endete. Dort ereilte den Zwanzigjährigen ein Granatenschock, der als dauerhafte Spur des Schreckens Gesichtszuckungen und Stottern bei diesem Tom Birkin hinterließ: ein Versehrter, ein Kriegszitterer.

Das Bild, das er nun freilegen soll, ist eine Darstellung des Jüngsten Gerichts. Und da er die Hölle schon kennt, wird daraus die erste Ebene dieser kurzen, vielsinnigen Geschichte: die Nähe von Schönheit und Schrecken. Die einen langen August währende Arbeit, vollbracht in klösterlicher Ruhe in der kühlen alten Empore unter dem Glockenturm, umgeben von einer leuchtenden Landschaft, führt den verwundeten Krieger zurück in den Frieden. Draußen arbeitet ein archäologischer Kollege, auch er einst Soldat, an einem anderen Auftrag der verstorbenen Dame; er soll ein mittelalterliches Grab am Rand des Friedhofs freilegen. Warum liegt es am Rand und nicht im geweihten Bezirk? Was hat dieses Grab mit den lebensvollen Gesichtern im Jüngsten Gericht des unbekannten Meisters zu tun? Warum ist dessen Christus so unsüßlich und streng? Wie in jeder englischen Landgeschichte verbergen alte Mauern auch Geheimnisse.

Ein paar Geheimnisse, süße, traurige Geheimnisse haben auch die Menschen, mit denen der gehemmte, verletzte Kirchenmaler allmählich in Berührung kommt. Vor allem aber sind die Landbewohner einfach und fromm, den unschuldigen Freuden des Sommers hingegeben, in einer Gegend, in der alles Frieden atmet. Die alte Dorfkirche mit ihrem misanthropischen Geistlichen hat Konkurrenz bei einer Methodistengemeinde, in der reihum von Laien gepredigt wird. Der Stotterer soll hier nun auch auf die Kanzel gehen, und seine Behinderung ist diesen liebenswürdigen Christen keine Erwähnung wert. Wie sie sich allmählich aus der Geschichte verliert, um fast beiläufig verabschiedet zu werden, ist einer der meisterlichen, weil unscheinbaren Züge dieser mit feinstem Takt entwickelten Geschichte. Carr schafft es, das stumme Voranschreiten einer Heilung fühlbar zu machen, indem er sie kaum erwähnt, dabei kann kein empfindsamer Leser das Handicap des Helden auch nur eine Sekunde vergessen.

Liebe in allen Formen, als Nächstenliebe, als Gottesliebe, als erotische Attraktion, als vereinsamendes Schicksal, erscheint im Lauf von bemessenen, aber endlos wirkenden Tagen, in denen nur wenige Gewitter eine strahlende Sonne unterbrechen. Warum wird das im Englischen nie kitschig? Natürlich ist es der trockene, zartfühlende Humor, der Sinn fürs Skurrile der Provinz, der das Allzuviel der Rührung, das hier droht, ausgleicht. Carrs Büchlein ist von musterhafter Schönheit. Es zeugt vom langen Gedächtnis der Briten an den Ersten Weltkrieg, zu dessen hundertjähriger Wiederkehr es nun auch wieder hervorgezogen wurde. Carr (1912 - 1994) war ein Lehrer, weit gereist und -gedient im britischen Weltreich, der sich mit Mitte fünfzig als Autor und Kleinverleger zurückzog. Die englische Wikipedia nennt ihn mit lateinisch anmutender Lakonie "novelist, teacher, publisher, eccentric". Vielleicht sollte man auch einmal in seine anderen Bücher schauen.

© SZ vom 13.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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