Elena Ferrante:Mittelweg der Wahrheit

Der italienische Journalist Claudio Gatti hat enthüllt, wer sich hinter dem Pseudonym der Bestsellerautorin verbirgt - weil Ferrante über ihre Biografie gelogen habe, sagt er im Gespräch.

Interview von Lukas Latz

Der Investigativ-Journalist Claudio Gatti enthüllte am Wochenende, dass hinter dem Pseudonym der italienischen Bestseller-Autorin Elena Ferrante die Übersetzerin Anita Raja steckt. Seine Artikel, die gleichzeitig in den USA, Deutschland, Frankreich und Italien erschienen, wurden scharf kritisiert.

SZ: Herr Gatti, haben Sie mit Ihren Enthüllungen zu Elena Ferrante die Privatsphäre der Autorin verletzt?

Claudio Gatti: Die allererste Person, die Elena Ferrantes Privatsphäre verletzt hat, war Elena Ferrante selbst. Sie schrieb das Buch, das in diesem November mit dem Titel "Fragments" in den USA erscheint. Es enthält Interviews mit ihr und einen vermeintlich autobiografischen Essay: dass sie die Tochter eines Schneiders ist und drei Geschwister hat, dass sie ihre Jugend in Neapel verbrachte, dass sie den lokalen Dialekt gesprochen hat und Ähnliches. Nichts davon ist wahr. Man kann nicht absoluten Schutz der eigenen Privatsphäre verlangen und zugleich mit Falschinformationen Spekulationen über die eigene Biografie Nahrung geben. Man kann nicht zugleich die Schönheit einer fertigen Torte bewundern und sie essen. Die Autorin versuchte das. Über lange Jahre funktionierte es ja auch, aber eben nicht ewig.

In Interviews bestand die Autorin immer wieder ausdrücklich darauf, wie wichtig ihr isoliertes Leben für ihr Schreiben ist. Haben Sie diese Aussagen zur Kenntnis genommen?

Ich lebe in New York. Ich habe hier noch miterlebt, wie der Schriftsteller J. D. Salinger in seinem Haus wirklich völlig zurückgezogen lebte. Dahingegen ist Elena Ferrante durchaus eine öffentliche Figur. Sie gibt relativ häufig Interviews. Ihr ging es auch darum, den medialen Zirkus anzuheizen und Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich verstehe ihr Bedürfnis nach Privatsphäre durchaus. Es ist viel besser, durch die Straßen New Yorks oder Roms zu laufen, ohne nach Autogrammen gefragt zu werden. Und es ist doch interessant, dass nichts, worüber Ferrante in ihrer Tetralogie schreibt, autobiografische Züge hat. Die wunderbaren Plots und Szenerien, die sie entworfen hat, sind ein Produkt ihrer Fantasie. Ich denke nicht, dass meine Enthüllungen ihr Werk in irgendeiner Weise beschädigen.

Gibt es etwas, das Sie nicht enthüllen würden?

Als Journalist ist es meine Aufgabe, die Wahrheit zu enthüllen. Ich habe in meiner Karriere viele gewichtige Investigativgeschichten gemacht. Die Ironie daran ist, dass nichts davon jemanden so interessiert hat wie jetzt die Ferrante-Geschichte. Ich habe eine große Geschichte darüber gemacht, wer den Menschenhandel zwischen Afrika und Europa kontrolliert. Ich habe Namen von Verbrechern enthüllt. Ich habe mit Drohnen gemachte Aufnahmen, wie Menschen in Libyen auf Schiffe gepackt werden. Ich habe darüber geschrieben, wie Shell einen nigerianischen Ölminister bestochen hat. Niemanden hat das je interessiert. Diese Recherchen hatten nie irgendwelche Konsequenzen.

Glauben Sie, dass Sie in diesem Fall wegen der Enthüllungen privater Einkommensverhältnisse strafrechtlich belangt werden könnten?

Nein. Absolut nicht. Dafür gibt es überhaupt keine Grundlage. Natürlich wäre es illegitim, die Privatsphäre anderer zu verletzen. Aber dadurch, dass sie selbst das Gespräch über ihre Biografie initiierte und darüber Lügen verbreitete, forderte sie Journalisten heraus.

Haben Sie Ferrantes Bücher gelesen?

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Wird ein Leseerlebnis gestört, wenn man mehr über die Autorin erfährt? Vielleicht wird es ein anderes.

(Foto: Getty)

Ja. Mit großem Vergnügen.

Was mochten Sie daran?

Italienische Autoren neigen oft dazu, sehr kryptisch zu schreiben. Die Lesbarkeit ihrer Bücher interessiert sie nicht. Elena Ferrantes Bücher ragen dadurch heraus, dass man als Leser die intellektuelle Tiefe ihres Schreibens spürt und gleichzeitig von ihrem Erzählen abhängig wird. Die Romane sind spannend wie ein Grisham und sie verhandeln auf sehr kluge Weise soziale und politische Themen. Ihr Schreiben ist auf einem Niveau mit Umberto Ecos "Im Namen der Rose". Ich denke auch, dass die Bücher einem internationalen Publikum auf wunderbare Weise ermöglichen, das Italien nach dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen.

Welchen Gewinn haben Ferrante-Leser aus Ihren Enthüllungen? Bereichern Ihre Artikel die Lektüreerfahrung?

Mir ist nicht bewusst, dass irgendein Kunstwerk jemals zerstört wurde dadurch, dass wir das Leben ihrer Schöpferin besser zu verstehen lernten. In der Geschichte der Kunst ist meistens das Gegenteil wahr gewesen. Eine viel wichtigere Erkenntnis aus meinen Artikeln ist, zu sehen, welch großen Einfluss Christa Wolf auf Ferrantes Schreiben ausgeübt hat. Zuvor hat das niemand jemals wirklich ausgeführt.

Ein italienischer Blog vermutete bereits im Februar 2015, dass hinter Elena Ferrante Anita Raja steckt. Schon damals wurde das mit der Tatsache begründet, dass Anita Raja Christa Wolfs Übersetzerin ist und Ferrantes Romane stark auf Christa Wolf verweisen.

Tatsächlich?

Ja. Es waren nicht Sie, der das herausgefunden hat. Es haben vor Ihnen viele Kritiker gesehen.

Das habe ich verpasst. Sehr interessant ist ja auch die Familiengeschichte der Autorin. Die Geschichte von Anita Rajas Mutter Goldi Petzenbaum, die eine Holocaust-Überlebende war. Ich denke, dass Goldi Petzenbaums Leben, die Geschichte von ihrem Sieg über das Böse, entscheidenden Einfluss auf Ferrantes Schreiben hatte. Die Geschichte von Goldi Petzenbaum zu kennen, hilft, Elena Ferrantes Romane zu verstehen.

Sie erfuhren diese Geschichte von der Linguistin Elisabetta Mattioli. War ihr bewusst, dass Sie an der Enthüllung der Identität von Anita Raja arbeiteten?

Nein. Wir sprachen über Goldi, niemals über Anita Raja. Das war eine völlig separate Geschichte für mich.

Und dieses Verschweigen finden Sie nicht verwerflich?

Ich sagte ihr ja, dass ich Journalist bin. Ich sagte ihr, dass ich über Goldi schreiben wollte. Ich habe Elisabetta Mattioli nichts verschwiegen.

Claudio Gatti

Claudio Gatti, geboren 1955 in Rom, arbeitet als Investigativjournalist vor allem für die Wirtschaftszeitung Il Sole 24 ORE. 2009 deckte er auf, dass die US-Bank JP Morgan Chase in den Anlagebetrug von Bernard Madoff involviert war

(Foto: privat)

Ferrante sagte einmal, sie würde mit dem Schreiben aufhören, wenn herauskommt, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt.

Menschen können behaupten, was immer sie wollen. Schauspieler könnten sagen, sie würden ihren Beruf an den Nagel hängen, solange Paparazzi Bilder von ihnen machen. Es gibt keinen zwingenden Grund für Elena Ferrante oder Anita Raja, anonym bleiben zu müssen, um Romane schreiben zu können.

War Ihre Ferrante-Recherche einfacher oder schwieriger als andere Projekte?

Es erforderte das gleiche Handwerk, gleiche Bemühungen und gleiche Ressourcen. Ich brauchte viel Zeit, Menschen aufzuspüren, Zeugen zu finden und in Archiven nach Dokumenten aus dem Zweiten Weltkrieg zu suchen. Schließlich wollte ich auch etwas finden, an das nicht jeder herankommt: die Daten über ihre Finanzen. Da war nichts wirklich anders. Meine Projekte dauern in der Regel mehrere Monate. Ich arbeite an verschiedenen Fällen gleichzeitig. Die Dinge, die ich über die Petzenbaum-Familie herausgefunden habe, zogen mich wirklich in einen Bann. Das gleiche Adrenalin, das im investigativen Journalismus immer fließt, sobald man etwas herausgefunden hat.

Hat Anita Raja zwischen sich und Elena Ferrante viele Hürden geschaffen?

Sie hat das sehr gut gemacht. Immerhin ist sie 24 Jahre unentdeckt geblieben. Schon vor meiner Recherche gab es Spekulationen, dass hinter Elena Ferrante Anita Raja stecke. Eigentlich waren nur drei Versionen wirklich wahrscheinlich. Entweder Elena Ferrante ist Anita Raja, deren Ehemann Domenico Starnone oder beide.

Glauben Sie, dass ein Teil der Kritik an Ihrer Recherche berechtigt ist?

Ich habe die Geschichte in vier Ländern publiziert, ich musste die Geschichte mit vier Redaktionen abstimmen. Von allen bekam ich eine Menge Druck, mehr Beweise dafür zu geben, dass Raja hinter Ferrante stecke. Zugleich war ich verpflichtet, Anita Rajas Privatsphäre nicht mehr als notwendig zu verletzen. Ich habe auch den Verlag mit meinen Recherchen konfrontiert. Ich wollte erzwingen, dass sie einfach zugeben, dass hinter Ferrante Anita Raja steckt. Hätten sie es zugegeben, hätte ich kein einziges Detail genannt. Mir ging es nicht darum darzustellen, dass Anita Raja reich ist oder dass sie Immobilien gekauft hat. Mir ging es darum darzustellen, dass sie Elena Ferrante ist.

Sie bereuen keine Zeile, die Sie zum Thema Elena Ferrante veröffentlicht haben?

Nein. Ich habe einen guten Mittelweg in einer schwierigen Situation gefunden.

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