in Hamburg:Die Elbphilharmonie - vom Problemkind zum Architekturwunder

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Blick auf die Elbphilharmonie (Foto: dpa)

Der Bau ist fertig, mit Jahren Verspätung und sehr viel teurer als geplant. Doch die Kosten wirken gering angesichts all der fabelhaften Möglichkeiten, dort etwas zu erleben.

Architekturkritik von Gottfried Knapp

Was die Elbphilharmonie in Hamburg von allen anderen peinlich verzögerten und stetig teurer gewordenen Bauprojekten in Deutschland unterscheidet, ist die Tatsache, dass jede Verzögerung, jede Bekanntgabe von Mehrkosten dem im Hafen emporwachsenden Monument zu weiterer Popularität verholfen haben. Man muss nur Vergleiche mit entsprechenden Problemfällen ziehen.

Der Flughafen Berlin-Brandenburg sollte 2011 als Musterbeispiel deutscher Ingenieurskunst in einem Festakt eingeweiht werden. Wenn er nun irgendwann im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert doch noch einmal eröffnet werden sollte, dürften sich Tsunamis von Hohn und Spott über den Ort der nationalen Schande ergießen. Und wenn das jahrelang leidenschaftlich bekämpfte Projekt Stuttgart 21 im begonnenen Stil trotzig weitergebaut wird, muss die Deutsche Bahn in den riskant steilen Tunneln, die sie zwischen Hauptbahnhof und Flughafen hat anbohren lassen, irgendwann den Offenbarungseid leisten.

Als Kritiker sucht man hilflos nach Vergleichsmaßstäben

In Hamburg aber ist das ehemalige Problemkind der Stadtplanung im Lauf der Wartejahre zum nationalen Architekturwunder aufgestiegen. Bei keinem anderen Bauvorhaben in Deutschland wird die Eröffnung mit so hohen Erwartungen herbeigesehnt. Der hoch über dem Hafen glitzernde Kristall des neuen Musikzentrums mit der rundum öffentlich begehbaren Panoramaplaza im achten Stock, mit dem integrierten Hotel, den Aussichtsrestaurants und den märchenhaft über dem Hafen gelegenen Luxuswohnungen hat in den Monaten, die er nun über die Speicherstadt hinweg in die Stadt hinein leuchtet, eine solch identifikatorische und ästhetische Kraft entwickelt, dass man als vorzeitig eingelassener Besucher ständig zwischen Überraschung und Überwältigung hin- und hertaumelt, als Kritiker aber hilflos nach Vergleichsmaßstäben sucht.

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Es gibt überhaupt nur ein einziges Bauwerk auf der Erde, das in seiner stadträumlichen Präsenz mit der Elbphilharmonie verglichen werden kann: die Oper von Sydney, das gigantische Kulturmonument des Dänen Jørn Utzon, das eine Vielfalt von Funktionen unter einer großen architektonischen Geste verbirgt. Statt eines Daches reckt der Bau mächtige Schalen in die Höhe, die sich wie die Schaufeln eines Mühlrads in Richtung Meer, aber auch in Richtung Land zu bewegen scheinen. Das Opernhaus formiert also eine große Empfangsgeste. Es lädt die Ankommenden in die vielen Wandelhallen und Säle ein, die in seinem Inneren warten, und grüßt gleichzeitig hinaus auf das Meer.

Die Elbphilharmonie erreicht mit ganz anderen Mitteln ähnlich suggestive Wirkungen im Stadtgefüge. Sie steht nicht auf dem festen Grund einer Halbinsel, sondern wächst über zahllosen, in den Grund gerammten Pfählen direkt aus dem Wasser empor. Wie ein Schiffsbug hat sich der keilförmig zugespitzte, acht Geschosse hohe Backsteinkoloss des Kaispeichers A zwischen zwei Hafenbecken nach vorne geschoben. Und wie ein Ozeanriese schiebt sich die auf dem Speicher aufsitzende Elbphilharmonie stromabwärts nach vorn.

Wenn man den Kulturtanker vom Wasser aus betrachtet, scheint er schon Fahrt aufgenommen zu haben. Er steuert auf das Herz der Stadt zu, nimmt Kontakt auf zu den Bauten, die er als Wahrzeichen abgelöst hat. Seine markante Spitze grüßt den ähnlich keilförmig zugespitzten Klinkerbau des Chilehauses drüben im benachbarten Kontorviertel. Und aus luftiger Höhe schickt er Botschaften hinüber zum Turm der Sankt-Michaelis-Kirche, die ihrer Aufgabe, Wahrzeichen einer Welthandelsmetropole zu sein, nie ganz gerecht werden konnte.

Die Stadt hatte für die Hafen-City schon sehr viel einträglichere Pläne

Hamburg fiebert also seiner neuen Publikumsattraktion entgegen. Doch dass dieser kulturelle Leuchtturm auf dem begehrtesten Grundstück im Investorenparadies Hafen-City überhaupt errichtet werden konnte, kann man rückblickend nur als Wunder bezeichnen, zumal die Stadt für dieses Filetstück schon sehr viel einträglichere Pläne hatte.

An Stelle des Kaispeichers sollte ein Spekulationsobjekt mit dem nichtssagenden Namen "Media City Port" errichtet werden. Dass der radikal schmucklose Speicherbau von Werner Kallmorgen als bedeutendes Monument der Sechzigerjahre unbedingt erhalten werden musste, ja dass in ihm die längst nötigen Konzertsäle der Stadt eingerichtet werden konnten, wurde als Denkmöglichkeit erst in Erwägung gezogen, als die von den Projektmanagern um Mitwirkung gebetenen Basler Architekten Herzog & de Meuron eine flüchtige Entwurfsskizze vorlegten. Mit ihr führten sie vor, wie aufregend ein Konzertsaalbau aussehen könnte, der nicht mehr im Speicher versteckt ist, sondern über dem mächtigen Backsteinkoloss wie auf einem Denkmalsockel in den Himmel strebt.

Noch heute lässt sich am Außenbau der Elbphilharmonie nacherleben, was die Zeichnung damals den Betrachtern vermittelt hat. Wie Melodielinien schwingen sich die Kanten des Dachs kurvig von Spitze zu Spitze. Die Horizontalen der Stockwerke wirken dabei wie Notenlinien. Von welcher Seite man den Bau auch betrachtet und wie viele der neun hochragenden Spitzen jeweils zu sehen sind - immer wirken die geschwungenen Konturen des Daches wie eine musikalische Komposition, die in den Himmel über Hamburg geschrieben ist.

Bis diese mit leichter Hand aufs Papier geworfenen Melodiebögen bautechnisch umgesetzt werden konnten, waren freilich noch viele konstruktive Überlegungen nötig. Und auch beim Ausbau des Speichers musste mehrfach gründlich umgedacht werden. Rechnet man aber all die fabelhaften Erlebnismöglichkeiten zusammen, die der Stadt durch dieses Bauprojekt eröffnet worden sind, wird man die Gesamtkosten sogar für relativ gering erachten.

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Die Basler Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron verblüffen bei all ihren Architekturen mit eigens entwickelten Fassaden-Konstruktionen und ungewöhnlichen Materialien. Für das in Hamburg über den Hafen hinausgehobene Musikzentrum haben sie eine Glashaut entwickelt, die mit ihren plastischen und grafischen Varianten auch größte Flächen in munter bewegte Reflex-Landschaften verwandelt.

Wie Tränensäcke aus der Fassade hängende Glasmulden

Viele der schweren Glasscheiben sind nach außen kräftig gebaucht; fast alle aber sind so mit feinen grafischen Mustern bedruckt, dass in der Mitte ein großes Oval frei bleibt, das bei Tag nach außen wie eine dunkle Stelle wirkt und darum von unten wie ein hinter der Glaswand verborgenes Auge wahrgenommen wird.

Eine geradezu aberwitzige Erfindung aber sind die wie Tränensäcke aus der Fassade hängenden Glasmulden, hinter denen sich Balkone befinden; diese Freiräume können von den dahinterliegenden Wohnungen oder Hotelzimmern, aber vereinzelt auch von den Konzertfoyers aus begangen werden. Wenn ein Mensch einen solchen Balkon betritt und sich über die wie ein Lid herunterhängende Brüstung beugt, kann er für die Zuschauer unten auf der Straße den Schalk im Auge oder den Lichtpunkt auf der Pupille spielen.

Schon wenn man auf dem Kaiserkai frontal auf die Ostwand der Elbphilharmonie zuschreitet, ist man überwältigt von der Ungeheuerlichkeit dieses querliegenden Massivs, dieses nahezu fensterlosen sichtversperrenden Backsteinriegels und des darüber bis in 80 Meter Höhe hinaufstoßenden, den Himmel widerspiegelnden Glaskörpers. Hinter der Backsteinwand ist das Parkhaus verborgen; hinter der gläsernen Wand darüber liegen die Zimmer und Suiten des Hotels. Am anderen Ende des Gebäudes aber, an der nur noch 21 Meter breiten, aber 115 Meter hoch über den Pegel der Elbe emporsteigenden Westfront, sind die 45 Wohneinheiten hinter den Glaswänden untergebracht.

In der Mitte zwischen diesen beiden konventionell etagenweise geschichteten Bautrakten erhebt sich die zeltartig kühne, weit ausladende Konstruktion, deretwegen Hochtief für viele Monate aus dem Projekt ausgestiegen ist. In diesem statischen Meisterwerk unter dem geschwungenen Dach ist der Große Konzertsaal so aufgehängt, dass er elegant über dem Speicher und über der öffentlich zugänglichen Plaza schwebt. Die ihn umkreisenden Foyers und Treppen aber stoßen immer wieder auf die Glasaußenwände, die eine weite Sicht über die Stadt, die Elbe, den Hafen oder die meteorologischen Ereignisse am Himmel bieten.

Der Konzertsaal fungiert als pumpendes Herz im belebten Baukörper

Hat man sich den im Glashaus schwebenden, ungefähr tropfenförmigen Konzertsaal als Figur eingeprägt, kommt er einem wie das schlagende Herz des umgebenden Baukörpers vor, wie der Muskel, der das musische Hochgefühl durch die Flure und Räume pumpt.

Schon das Eindringen in das Bauwerk wird zum räumlichen Erlebnis. Wer einen der Stellplätze im sechsgeschossigen Parkhaus erreichen will, wird von einer kreisförmigen Rampenspindel emporgetragen, die in ihrer Eleganz an die berühmte Spindel im ehemaligen Fiat-Lingotto-Werk in Turin erinnert. Und wer sich zu Fuß auf das Abenteuer der Speicher-Besteigung einlässt, wird von einer 80 Meter langen, nach oben langsam flacher werdenden Rolltreppe in einem engen Tunnel quer durch das ganze Gebäude getragen und am anderen Ende vor eine riesige Glasscheibe geworfen, die einen verblüffenden Aus- und Tiefblick auf den Hafen und das Treiben unten auf der Elbe freigibt.

Eine zweite Rolltreppe führt dann in Gegenrichtung hinauf auf das Dach des Speichers, auf die dort eingerichtete Plaza, also auf die Ebene, auf der man ohne Eintrittskarte das gesamte Gebäude umschreiten kann. Auf dieser zentralen Verteilerebene, an diesem Endpunkt der Wege durch den Speicher und diesem Ausgangspunkt zu den Konzertsälen, zum Café, zum Shop und zur Lobby des Hotels, ist die gestaltende Hand der Architekten am deutlichsten zu spüren. Der hier vorgenommene Querdurchstich durch das Gebäude ist nach Süden zum Hafen hin flach überwölbt; nach Norden zur Stadt hin aber öffnet er sich als vier Stockwerke hohes Rundbogentor, das die Blicke der Besucher an den beiden benachbarten Hochhäusern vorbei auf die Türme der Stadt lenkt.

Die ohne Unterbrechung von der Decke bis zum Boden herunterfallenden Glasvorhänge, die diesen belebten Mittelraum vom Außenbereich trennen, vollführen im Grundriss einen geradezu abenteuerlichen Kurventanz. Selbst die Drehtüren sind noch S-förmig gewellt. Und auch die in der Halle einander gegenüberliegenden Aufgänge zu den beiden Konzertsälen winden sich, in Spiralform enger werdend, wie Gehörgänge in die Höhe.

Steigt man auf einer dieser flachen Treppen in die Foyers der Konzertsäle und zu den Garderoben und Pausenräumen hinauf, bewegt man sich durch eine expressionistisch geknickte und immer wieder überraschend sich öffnende Architekturlandschaft, in der das helle Eichenholz der Böden und die schwarzen Linien der Geländer ein abwechslungsreiches Spiel treiben.

Die Philharmonie wird in der Geschichte des Konzertsaalbaus ein neues Kapitel aufschlagen

Der schuhschachtelförmige Kammermusiksaal - er hat 550 Plätze und ist, akustisch perfekt abgefedert, quasi in den Baukörper des Hotels hineingeschmiegt - bietet mit seinen Wänden aus gewelltem und gefrästem Holz, mit seinen technischen Einrichtungen und seinen vielfältig verstellbaren Podien und Bodenflächen akustisch ideale Möglichkeiten für unterschiedlichste Darbietungsformen.

Ähnlich vielfältig nutzbare Säle gibt es freilich in vielen deutschen Städten. Der große Konzertsaal im Hamburger Musikzentrum aber, die Philharmonie, wird in der Geschichte des Konzertsaalbaus ein neues Kapitel aufschlagen. In diesem fast runden Raum sind die 2100 Sitzplätze zwar wie in Scharouns Berliner Philharmonie auf Rängen rund um das Podium herum gruppiert, doch hier haben die Architekten, den Klangforschungen des japanischen Akustikers Toyota folgend, das Podium noch entschiedener in die Mitte des Raums, also direkt unter den wie ein riesiger Pilz von der Decke hängenden Licht- und Tonreflektor gerückt. Die Sitzreihen aber konnten im Parkett und in den acht im Kreis steil übereinander ansteigenden Rängen so geschickt verteilt werden, dass keiner der Besucher weiter als 30 Meter vom Dirigenten oder Solisten entfernt ist.

Hamburg kann man bejubeln. Um München aber muss man trauern

Welchen Glanz musikalische Werke in dieser architektonischen Herzkammer über der Stadt entwickeln werden, ist erst zu beurteilen, wenn die Konzertsaison im Januar beginnt. Welche euphorisierende Wirkung vom Baukunstwerk Elbphilharmonie aber ausgeht, ist schon jetzt überall in Hamburg zu erleben. Aus München angereiste Musikfreunde können jedenfalls nur in Trübsinn verfallen, wenn sie beim Anblick dieses eindrucksvollen musikalischen Wahrzeichens an die lächerliche Konzertsaalkiste denken, die in München im Niemandsland hinter dem Ostbahnhof in den Vorhof einer ehemaligen Fabrik gequetscht werden soll.

© SZ vom 03.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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