E.L. Doctorow: "Der Marsch":Das entlarvte Übel

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Es war eine Heimsuchung, keine Armee: E.L. Doctorow entfaltet mit seinem Roman "Der Marsch" ein gewaltiges Historienpanorama, das die Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs erzählt und den Krieg als Vater aller Dinge erfasst.

Jens-Christian Rabe

Der historische Roman ist ein tückisches Genre. Widmet er sich dem richtigen, also mindestens epochalen Stoff, hat er eine Menge Aufmerksamkeit sicher. Genauso schnell aber nagt der Zweifel an der Darstellung, denn die muss sich naturgemäß immer wieder weit jenseits des Belegbaren bewegen. Es wird tief eingetaucht ein in die Psychologie der Protagonisten, die oft auch noch frei erfunden sind - und die Ereignisse werden von Dialogen vorangetrieben, von denen niemand weiß, ob sie je so geführt worden sind.

E.L. Doctorow, Der Marsch, Roman. Aus dem Amerikanischen von Angela Praesent. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007. 411 S., 22,90 Euro. (Foto: Foto: Kiepenheuer & Witsch)

Historische Romane sind Tänze um das goldenen Kalb der Wissensgesellschaft: die Fakten. Und wozu? Natürlich um der Wahrheit hinter dem Wahren willen. Was erzählen schon glanzvolle Chroniken von der tristen Hast der großen Politik, was blanke Daten, Zahlen von den Schrecken der großen Kriege?

Ganz in diesem Sinne war sich die angelsächsische Kritik im Fall des neuen Romans "Der Marsch" des seit Jahrzehnten zur ersten Reihe der amerikanischen Gegenwartsautoren zählenden E.L. Doctorow völlig einig, als 2005 die Originalausgabe des Buches erschien. Die New York Times griff zum denkbar monströsesten Lob und verglich den "Marsch" mit der "Ilias". Wie Homer sei es Doctorow gelungen, den Krieg als urmenschliches Übel zu entlarven. Sogar der bekennend Doctorow-skeptische Großautor John Updike ließ sich im New Yorker zu einem "splendid" hinreißen - großartig!

Und auch in Deutschland gab es überhaupt nichts auszusetzen an dem Buch. Im Gegenteil. Davon, dass der preisgekrönte Autor von gefeierten Romanen wie "Ragtime" (1975), "Billy Bathgate" (1989) oder "City of God" (2000) nun sein "Meisterwerk" (FAS) vorgelegt hätte, war die Rede. Tolstois "Krieg und Frieden" wurde mehr als einmal bemüht, um "tiefe Zufriedenheit" (taz) mit einem "süffigen Epos" (FR) zu begründen, dass man "lange nicht vergisst" (FAZ).

Plündern, was man tragen kann

Es kommt vor, dass wirklich niemand etwas auszusetzen hat - aber wirklich häufig ist es nicht. Warum trifft es gerade auch in Deutschland ein Buch, das auf über 400 Seiten mit dem amerikanischen Bürgerkrieg ein Thema behandelt, das doch eher weit entfernt ist von allem, was die meisten deutschen Leser wirklich bewegen dürfte? Antworten dafür gibt es nicht wenige. Und sie liegen allesamt, soweit ist der Jubel mehr als verständlich, im Buch selbst.

Schon der Ausschnitt ist - natürlich - klug gewählt. Erzählt wird allein das letzte Jahr des Kampfes der Nord- gegen die Südstaaten, genauer die Ereignisse um den berühmten Feldzugs des Nordstaaten-Generals William T. Sherman 1864/65 durch die letzten drei abtrünnigen Südstaaten Georgia, South Carolina und North Carolina. In die amerikanische Mythologie eingegangen als "Marsch zum Meer", gilt der Feldzug als erster taktischer Vernichtungskrieg der Weltgeschichte.

Shermans 60000 Mann starke Armee hinterließ auf ihrem Weg nichts als "verbrannte Erde". Um jede Hilfe der Bevölkerung für die gegnerischen Truppen unmöglich zu machen, durften die Soldaten plündern, was sie tragen konnten - der Rest musste niedergebrannt werden. Das literarisch, vielmehr noch: das zivilisationsgeschichtlich hochspannende Dilemma liegt somit sofort offen da, denn Sherman kämpfte vertrackterweise mit den bösen Mitteln für die gute Sache. Der Krieg hatte sich schließlich wesentlich an der Frage der Sklaverei entzündet, von der die Südstaaten nicht lassen wollten.

Beeindruckend wuchtig liest sich die Situation bei Doctorow - und läuft doch nie willkürlich schlachtenselig aus dem Ruder. Ein großer, sich seinen narrativen Mitteln traumwandlerisch sicherer - und von Angela Praesent mit präziser Eleganz ins Deutsche übertragener - Geschichtenerzähler ist am Werk: "Und dann waren es so viele, dass sie auf den Straßen keinen Platz mehr fanden und sich über die Vorgärten ausbreiteten wie ein über die Ufer tretender Fluss. Weiße Planwagen, von Maultieren gezogen, kamen in Sicht, die Maultiertreiber mit aufgerollten Ärmeln, und hinter ihnen Munitionswagen und an den Kanonenrohren zerbrach das Licht der Spätnachmittagssonne in plötzlich aufblitzende Scherben, die an die mörderische Stoßkraft der Geschütze gemahnten. Sie zog die Vorhänge dicht zu, kehrte sich vom Fenster ab und schloss die Augen. Sie hörte Rinder muhen, Männer brüllen, Peitschen knallen. Eine Heimsuchung war das, keine Armee." - "This was not an army, it was an infestation."

Ein makelloses Puzzle

Und als eben dies: als Heimsuchung inszeniert Doctorow das Grauen, von dem er erzählt. In seinem "Marsch" suchen nicht die Menschen den Krieg, der Krieg, und sei er noch so gerecht, findet die Menschen, überall. Das Leben ist bei diesem Autor ohne den gewaltsamen Tod nicht zu haben. Schon gar nicht das gute.

Es ist das breite Bild, das hier aufgerissen wird, das ganz große Schlacht-Panorama. Aber von unten, höchstens einmal von der Seite. Die Draufsichten sind immer perspektivisch gebrochen. Die Frau, die eben vor den Horden die Vorhänge zuzieht im Haus des Südstaaten-Richters Horace Thompson, diese Frau ist seine Tochter. An anderen Stellen werden Dienstmägde, Soldaten, Korrespondenten, Generäle, Ärzte, Farmer oder Deserteure fokussiert. Rein dramaturgisch ist "Der Marsch" ein Puzzle, ein Episodenfilm. Von der ersten Szene an.

Grob aufgeteilt ist er in drei etwa gleich große Abschnitte, die jeweils die Namen der drei Staaten tragen, die den Schauplatz des Werks bilden. Eine darüber hinaus gehende Binnenordnung der vielen, schlicht lateinisch nummerierten Unterkapitel gibt es nicht. Handlungsstränge und Schicksale werden sorgfältig eingeführt, entwickelt und fallengelassen, nur um bei Gelegenheit wieder aufgenommen zu werden - oder eben doch nicht. Die literarische Geste dabei ist jedoch zu jedem Zeitpunkt klassisch, auf eine sehr unprätentiöse Art zeitlos altmodisch. Doctorow vertraut vollkommen auf die Kraft seines makellosen Arrangements des Stoffs.

Und wo ist das Problem? Es gibt keins - bis vielleicht auf dieses ganz kleine, äußerliche Detail: dass einen trotz aller Brillanz des Romans der seltsame Verdacht nie loslässt, dass das, was einem so mitverkauft wird an scheinbar höherer Wahrheit, genau besehen irgendwie auch etwas läppisch ist. Es reicht doch ein nicht allzu wacher Blick ins Geschichtsbuch, um die traurige Ahnung zu bekommen, dass der Krieg viel mehr noch als die Hölle, die er natürlich immer ist, auch im Guten ein Motor der Geschichte sein kann, der Vater aller Dinge. Andererseits: So virtuos erzählt wie in "Der Marsch" bekommt man diesen Allgemeinplatz selten.

© SZ-Beilage vom 09.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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