Einsturz des Kölner Stadtarchivs:Was wir über das Mittelalter wissen

Für den Historiker Johannes Fried wäre der Verlust des Kölner Stadtarchivs eine Katastrophe für die europäische Geschichtswissenschaft.

Johan Schloemann

Johannes Fried, Ordinarius in Frankfurt am Main, ist einer der führenden deutschen Mittelalterhistoriker. Zuletzt erschien seine Gesamtdarstellung "Das Mittelalter" (2008). Fried zeigte sich am Mittwoch erschüttert über den Einsturz des Historischen Stadtarchivs in Köln. Die SZ fragte ihn am Rande der Tagung der Historischen Kommission in München nach dem Ausmaß der Verluste.

Einsturz des Kölner Stadtarchivs: Wer historische Reliquien aus dem Mittelalter sucht, muss nun in das Historische Achiv des Erzbistums in der in der Gereonstraße gehen. Die Siegelsammlung "Beissel" gilt als eine größten Siegelsammlungen der Welt.

Wer historische Reliquien aus dem Mittelalter sucht, muss nun in das Historische Achiv des Erzbistums in der in der Gereonstraße gehen. Die Siegelsammlung "Beissel" gilt als eine größten Siegelsammlungen der Welt.

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Welche Bedeutung hat das Kölner Stadtarchiv?

Johannes Fried: Das Kölner Stadtarchiv ist - war? - eines der größten in Mitteleuropa überhaupt. In Deutschland sind allenfalls noch zwei vergleichbare Archive von großen Fernhandelsstädten erhalten, nämlich Lübeck und Nürnberg. Die großen Archive in Frankfurt und Hamburg sind untergegangen, das eine im Zweiten Weltkrieg, das andere beim großen Stadtbrand Hamburgs 1842. Wenn nun das Archiv in Köln so zerstört sein sollte, wie es den Anschein hat, dann wäre das eine Katastrophe nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Geschichtswissenschaft. Köln war im Mittelalter das Zentrum der nach Westen, nach London hin orientierten Hanse. So wurden dort unzählige Quellen gelagert, die sich darauf beziehen - etwa Wirtschaftsverträge, Gesandtschaften, politische Verträge. Köln war maßgeblich mitbeteiligt an der Doppelwahl des Königs in Deutschland im Jahr 1198, um nur ein Beispiel aus der politischen Geschichte zu nennen.

SZ: Für die Dokumentation der Stadtgeschichte ist der Verlust allemal eine Katastrophe, oder?

Fried: Ja. Die Kölner hatten sämtliche Archive ihrer säkularisierten großen Stifte und Klöster - wie St. Ursula, Groß St. Martin und so weiter - zentral in ihrem Archiv untergebracht.

SZ: Warum sind die Urkunden aus diesen Stiften so wichtig?

Fried: In diesen Stiften und Klöstern, deren Urkunden bis ins 11. Jahrhundert zurückgehen, wird für den Historiker das Bürgertum des Mittelalters fassbar. Die Quellen zeigen die innere Entwicklung der Stadtgesellschaft. So ist etwa für Köln im Hochmittelalter weibliches Unternehmertum bezeugt, etwa in der Seidenweberei - nur aus solchen sogenannten Privat-Urkunden wissen wir, dass Frauen in mittelalterlichen Städten als Unternehmerinnen auftreten konnten. Die Quellen verraten uns etwas über die Zusammensetzung der Bürgerschaft, die Verwandtschaftsverhältnisse, über die wirtschaftliche Situation, über die Verteilung des städtischen Besitzes.

SZ: Die Ratsprotokolle der Stadt könnten ebenfalls zerstört sein.

Fried: Die Kölner haben kontinuierlich die Ratsprotokolle vom Hochmittelalter bis in die Neuzeit gesammelt. Diese Quellen erzählen von der Entwicklung und der Verfassung der Stadt Köln, von ihren politischen Beziehungen nach außen, etwa zu den Herrscherhäusern, von den militärischen Auseinandersetzungen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Archive das Gedächtnis der Gesellschaft sind.

SZ: Was bedeutet überhaupt Archivarbeit für den Historiker?

Fried: Ohne sie ist er gar kein Historiker. Die Archive sind das Gedächtnis der Gesellschaft. Zwar steht manches in den erzählenden Quellen, die mit dem späten Mittelalter immer dichter werden. Aber der ganze wertvolle Kleinkram, der die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die finanziellen Verhältnisse der Vergangenheit, die Alltagsgeschichte überhaupt erst dokumentiert, findet sich nur in den Archiven. Die erzählenden Geschichtsquellen wie etwa Stadtchroniken liefern Zusammenhänge und manchmal zusätzliche Informationen - aber nicht Fakten im Detail und ihre wahre Gewichtung.

SZ: Auch die rechtsgeschichtliche Bedeutung der Kölner Quellen wird immer wieder hervorgehoben.

Fried: Die Urkunden sind immer auch Rechtsakte. Im Kölner Archiv wurden auch die sogenannten Schreinsbücher aufbewahrt, das sind systematische Verzeichnisse aller Grundstücks-Transaktionen jenseits eines bestimmten Wertes. Auch viele verfassungsgeschichtliche Phänomene kann man nur über die Urkunden fassen. Manche sind stolze, interessante Originale der diplomatischen Geschichte, etwa Friedensverträge.

SZ: Worin liegt die Bedeutung Kölns für die deutsche Geschichte allgemein?

Fried: Die Stadt war durch den Kölner Erzbischof ganz zentral beteiligt an der Geschichte des Alten Reiches. Der Erzbischof von Köln war ja einer der Kurfürsten, die den deutschen König gewählt haben. Er hat den König auch immer offiziell gekrönt, bevor der Krönungsort im 12. Jahrhundert nach Frankfurt verlegt wurde. Wirtschaftsgeschichtlich war Köln entscheidend durch den sogenannten Stapel: Hier mussten die rheinabwärts fahrenden Schiffe umgeschlagen werden: Die Ladung wurde auf größere, seegängige Schiffe umgesetzt, die dann Richtung Nordsee fuhren. Dadurch ist Köln reich geworden. Immens war auch die Bedeutung des Kölner Fernhandels, der bis zur Ostsee und nach Spanien reichte. Und Köln war auch ein geistesgeschichtliches Zentrum durch die Dominikaner - Albertus Magnus und Thomas von Aquin haben hier gelehrt. All dies hat dieses unschätzbare Archiv dokumentiert.

SZ: Spätestens nach dem Brand der Anna-Amalia-Bibliothek ist immer wieder nach den Möglichkeiten sicherer Konservierung historischer Quellen gefragt worden. Welche Rolle kann da - neben der Sicherung von Gebäuden - die Digitalisierung übernehmen?

Fried: Mit der Verfilmung wird immerhin der Inhalt der Dokumente erhalten, auch wenn die äußere Form für den Historiker oft auch von Bedeutung ist. Die Faksimilierung und elektronische Speicherung von Urkunden sind natürlich wünschenswert, aber das ist ein wahnsinnig arbeitsreicher, Jahre dauernder und teurer Vorgang, den die Archive in Deutschland mit ihrer personellen und finanziellen Ausstattung kaum leisten können.

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