Ein Bild und seine Geschichte:Das "Große Tier 666" alias Aleister Crowley

Sexualforscher Alfred Kinsey und Hollywood-Regisseur Kenneth Anger in der Abtei von Thelema auf Sizilien, wo einst Aleister Crowley lebte.

Der Filmemacher Kenneth Anger (r.) besucht mit dem Sexualforscher Alfred Kinsey die frühere Abtei von Thelema auf Sizilien, wo der Okkultist Aleister Crowley (auf dem Foto im Foto) einst seine Sekte führte.

(Foto: Corbis via Getty Images)

Im Dezember vor 70 Jahren starb Aleister Crowley, eine der merkwürdigsten und schillerndsten Gestalten des 20. Jahrhunderts. Der Brite war Künstler, Okkultist, Sexualmagier - und sah in Hitler seinen Vollstrecker.

Von Joshua Beer

Ein Bild und seine Geschichte

SZ.de zeigt in loser Folge jeweils ein besonderes Foto oder eine besondere Abbildung. Hinter manchen Aufnahmen und Bildern steckt eine konkrete Geschichte, andere stehen exemplarisch für historische Begebenheiten und Zeitumstände. Übersicht der bisher erschienenen Texte

Unweit der malerischen Ortschaft Cefalù auf Sizilien steht zwischen Olivenhainen eine alte, verfallene Villa. Es ist ein an sich unscheinbarer, einstöckiger Bau, von dessen Wänden weiße Farbe blättert. Wären da nicht die aufgesprühten satanischen Symbole, die Zahl 666 und das umgedrehte Pentagramm, die den arglosen Wanderer ahnen lassen: Hier verbirgt sich eine außergewöhnliche Geschichte.

Das Gebäude, einst als Abtei von Thelema bekannt, war auch schon dem Verfall preisgegeben, als es der US-Regisseur Kenneth Anger 1955 betrat. Der Experimentalfilmer gilt in Hollywood bis heute als exzentrischer Außenseiter, den alles Okkulte und Abgründige fasziniert.

Anger erinnerte sich auch viele Jahre später gut an den sagenumwobenen Ort auf Sizilien. An die scharlachrote Frau mit dem goldenen Phallus in der Hand, die auf die Küchentür gemalt ist. Oder an die blaue Figur mit sechs Zähnen, die im Schlafzimmer wacht. Markant ist auch das verwitterte Fresko im zentralen Saal mit den (original englischen) Versen: "Stich dein dämonisches Lächeln in mein Gehirn / Tauch mich ein in Kognak, Mösensaft und Kokain".

Anger reiste nicht alleine, sondern mit dem Sexualforscher Alfred Kinsey, dessen "Kinsey-Report" die sexuelle Revolution in den USA maßgeblich befeuerte. Ein gespenstisches Bild aus der Abtei (oben) zeugt von dem Besuch des Reise-Duos.

Was die beiden zusammen und in die düstere Villa führte, ist im Foto neben ihnen an der Wand zu sehen: Da prangt das Konterfei des Mannes, der hier von 1920 an eine okkulte Sekte dirigierte. Ein Mann, der innerhalb dieser Wände malte, schrieb, kokste, Heroin spritzte, Opium rauchte und wüste Sexualriten abhielt.

Ein Mann, der in Großbritannien bereits als "bösester Mensch der Welt" verschrien war und 1923 von Mussolini aus Italien geworfen wurde, nachdem einer seiner Jünger in der Abtei umkam - womöglich bei einem "magischen" Ritual. Jener Mann nannte sich Aleister Crowley und er war weitaus mehr als ein okkulter Guru.

Aleister Crowley um 1890

Der junge Aleister Crowley etwa um 1890, gewandet in okkulten Kleidern.

(Foto: Getty Images)

Crowley wurde am 12. Oktober 1875 im englischen Leamington Spa geboren - laut Eigendarstellung als das "Große Tier 666" aus der Johannes-Offenbarung. Seine strenggläubigen Eltern erkannten in ihrem Baby aber nicht das biblische Biest der Apokalypse, sie ließen ihn auf Edward Alexander Crowley taufen.

Die Erziehung gestaltete sich puritanisch, autoritär und war darauf aus, Edwards sexuelle Regungen abzutöten. Das schlug fehl, der Junge hatte im Alter von 14 Geschlechtsverkehr. Mit 20 Jahren begann er ein geisteswissenschaftliches Studium und nannte sich fortan Aleister.

Profischach und die Uni - alles zu öde

Im libertären Umfeld des Trinity College in Cambridge gab sich der Student seinen bisexuellen Neigungen hin, probierte sich in "sexualmagischen" Praktiken aus, wodurch er riskierte, wegen "Unzucht" eingekerkert zu werden.

Aleister entpuppte sich als begabter Kopf, begeisterte als Schachgenie und reiste zu einem großen Turnier nach Berlin; dort merkte er, wie ihn die Schachmeister anöden. Ähnlich erging es ihm mit dem Studium, das ihn langweilte.

Als dann sein Vater, ein Brauereibesitzer, starb und ihm ein beachtliches Vermögen vererbte, schmiss er 1898 hin. Die Uni tauschte er gegen seinen ersten Kult ein, den esoterischen "Hermetic Order of the Golden Dawn". In dieser Lebensphase, um 1912, ist das Foto des jungen Crowley in okkultem Ornat entstanden.

Bevor er seinen eigenen Geheimbund, den "Astrum Argentum", und vor allem die Religion "Thelema" erfand, verwendete Crowley sein Geld darauf, durch die Welt zu reisen. Den ersten Ruhm erlangte er tatsächlich als Profi-Bergsteiger. Das "Tier" erklomm den Eiger im Alleingang und begleitete Oscar Eckenstein bei seinem Erstbesteigungsversuch des K2. Sie stellten sogar einen Rekord auf.

Crowleys Skrupellosigkeit als Kletter-Gefährte, die ihn sogar Tote in Kauf nehmen ließ, machte ihn in der Szene berüchtigt und schließlich verpönt. Auf seinen Bergsteiger-Touren in Asien und auch Mexiko jedenfalls tauchte er in allerlei religiöse, teils obskure Strömungen ab und entnahm ihnen Ideen, die er später in seinen eigenen Kult einfließen ließ.

Sehr früh war Crowley davon überzeugt, eine Art Messias zu sein, der zwar noch etwas ziellos durch die Welt streift, aber die Mission hat, die großen Religionen, besonders das ihm verhasste Christentum, zu zerschlagen. Der Moment der Erleuchtung ereilte "den Heiland" schließlich 1904 in Ägypten. Seine schwangere Frau Rose informierte ihn, dass der altägyptische Gott Horus ihn erwarte, um etwas zu verkünden.

Der britische Geheimdienst wollte Crowley auf eine Nazi-Größe ansetzen

So kam es, dass Crowley in einem Kairoer Apartment in drei aufeinander folgenden Tagen sein Hauptwerk "Liber legis" ("Das Buch des Gesetzes") zu Papier brachte - zumindest behauptete er das. Den Inhalt flüsterte ihm angeblich eine Stimme aus der dunklen Ecke des Zimmers zu. Es war aber nicht Horus, der da diktierte, sondern ein Botschafter und "geheimer Oberer", den Crowley "Aiwass" nennt.

Aiwass sprach praktischerweise in Versen und so geriet das handschriftliche Original des "Liber legis" zu einem poetischen, ja ekstatischen Bewusstseinsstrom von mystischen Fantasien und opulenten Spracheskapaden.

Aiwass' zentrale Botschaft lautete: "Du hast kein Recht außer deinen Willen zu tun", woraus Crowleys Kult des Thelema (griech: Wille) erwuchs. In dieser hedonistischen wie narzisstischen Ideenwelt gab es neben dem Menschen keine Götter, sodass der Mensch sich selbst vergöttern muss.

Aleister Crowley

Aleister Crowley um 1930

(Foto: Getty Images)

Nach dem attraktiven Prinzip, dass nur der eigene ungezähmte Wille zähle, richtete Crowley sich in den Sphären eines ausufernden Egomanismus ein. Er scharte Anhänger um sich, führte diverse Geheimbünde und knüpfte Kontakte in ganz Europa.

In Berlin traf er sich angeblich mit Aldous Huxley und zu Ian Fleming pflegte er freundschaftlichen Kontakt. Der spätere James-Bond-Erfinder versuchte sogar während des Zweiten Weltkriegs, Crowley zu sich in den britischen Marine-Nachrichtendienst zu holen, um den Hitler-Vertrauten Rudolf Heß zu verhören. Diese bizarre Begegnung kam jedoch nicht zustande.

Das "Große Tier" selbst bewunderte den deutschen Diktator und glaubte, der Faschismus exekutierte politisch seine okkulte Ideologie der entgrenzten Selbstvergötterung. Fleming fand übrigens einen anderen Weg, um Crowley zu ehren: Er konstruierte Le Chiffre, den ersten Bond-Schurken, nach dem Vorbild des Gurus.

Die Pariser und Londoner Avantgarde schätzte Crowley als intellektuellen Exoten, während die Presse gegen ihn wetterte mit Parolen wie: "Der Mann, den wir hängen sehen wollen". Sie warf ihm Teufelsanbetung und Kindestötung vor. Nachweisen konnten sie dem Guru wenig.

Doch Crowleys Rituale, die er als "Sexualmagier" ausführte, lebten nicht nur von ihrer psychologischen Gewalt, sie arteten auch nicht selten in körperlicher Gewalt aus. Crowley hinterließ auf seinem Weg eine Spur von seelisch zerstörten, misshandelten Frauen.

1918 traf Crowley die verheiratete Lehrerin Leah Hirsig, die er zu seiner "Scharlachroten Frau" erklärte: der magische und weibliche Gegenpart, den ihm Horus-Sprecher Aiwass angeraten hatte. Hirsig begleitete ihn jahrelang, auch nach Cefalù. Die dionysischen Verse in der Abtei sind Ausschnitte seines Gedichts "Leah Sublime", eine Lobpreisung von Hirsigs Geschlecht.

Enormer Heroinkonsum

Crowleys Drogenkonsum war enorm und erreichte in Sizilien seinen Höhepunkt. Dreimal am Tag soll er sich jeweils 47 Milligramm Heroin injiziert haben. Rauschgift nahm der Guru bis an sein Lebensende.

Am 1. Dezember 1947 starb er im englischen Hastings. Seiner Nachwelt vermachte er mehr als 80 Veröffentlichungen, zahlreiche Skizzen und Gemälde sowie einen Tarot-Kartensatz. Ganz zu schweigen von einem weitreichenden und verheerenden Einfluss.

Viele Medien nennen Crowley bis heute einen Satanisten, obwohl er die christliche Dualität Gott/Satan als verblendeten Unfug verwarf. Ungeachtet dessen ist sein Mythos, an dem er schon zu Lebzeiten arbeitete, eine unheilvolle Inspirationsquelle nicht nur für den Neo-Satanismus. Der unlängst verstorbene Charles Manson, Kopf der mörderischen Manson Family, bediente sich von den egomanischen, religionsfeindlichen Ideen des "Liber legis" ebenso wie es Scientology-Gründer L. Ron Hubbard getan haben soll.

Auch manche Hippies der New-Age-Bewegung fanden Gefallen an Crowleys "Tu, was du willst"-Gesetz und der von ihm propagierten freien Liebe. Die heutige Esoterik ist ohne sein geistiges Vermächtnis kaum denkbar.

Selbst Größen der Popkultur verlieh er eine weithin unbekannte, doch abgründige Dimension: Die Beatles zeigten Crowley auf ihrem Sergeant-Pepper-Albumcover, Jimmy Page kaufte ein altes Haus des Gurus am Loch Ness, David Bowie sang über ihn, Marylin Manson tut es heute noch und Mick Jagger trug zu dem Soundtrack des Kurzfilms "Invocation of my Demon Brother" bei. Der inszeniert eine schwarze Crowley-Messe. Regisseur: Hollywoods Okkultismus-Liebhaber Kenneth Anger.

Und die alte Abtei von Thelema auf Sizilien? Wer mehr als eine Million britische Pfund übrig hat, kann sie erwerben. Und dann durch ihre Räume streifen wie einst das fleischgewordene "Große Tier 666" Aleister Crowley.

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