Ein Aufsatz:Hinein ins Getümmel!

Ulrich Kasparick war einmal Bundestagsabgeordneter und Staatssekretär (SPD) und ist seit einigen Jahren wieder Pastor in Hetzdorf, einem Dorf in der Uckermark. Nun berichtet er vom Landleben in Ostdeutschland.

Von Johann Hinrich Claussen

Eine Reihe von Kulturtreibenden hat jüngst gefordert, dass kein Bundestagsabgeordneter der AfD den Ausschuss für Kultur und Medien leiten dürfe. Es ist zu fragen, ob solche Initiativen viel ausrichten oder nicht eher einen gegenteiligen Effekt erzielen. Dringlicher erscheint doch die Aufgabe, dem Erfolgsgeheimnis der Rechtspartei auf die Spur zu kommen, um endlich wirkungsvolle Gegenstrategien zu entwickeln. Dabei hilft nun ein Aufsatz eines Dorfpastors aus Brandenburg. Erschienen ist er in dem überhaupt sehr lesenswerten Sammelband "Alternative für Christen?", der zeigt, dass es auch in der evangelischen Kirche Köpfe gibt, die es sich mit der AfD nicht zu einfach machen wollen und sich nicht damit begnügen, ihre moralische Überlegenheit zu vorzuführen (Ulrich Kasparick: Man kennt sich. In: Alternative für Christen? Die AfD und ihr gespaltenes Verhältnis zur Religion, hrsg. von Wolfgang Thielmann, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2017, 17 Euro).

Ulrich Kasparick war einmal Bundestagsabgeordneter und Staatssekretär (SPD) und ist seit einigen Jahren wieder Pastor in Hetzdorf, einem Dorf in der Uckermark. Er verbindet also intime Kenntnisse sowohl des politischen Betriebs wie des Landlebens in Ostdeutschland. Eindrucksvoll weist er auf ein zentrales Problem hin: Die Demokratie lebt vom öffentlichen Gespräch - dies aber hat in den östlichen Landgebieten keinen Ort und keine Tradition. Was beschönigend als "demographischer Wandel" beschrieben wird, ist in Wahrheit eine Stillstellung und Entleerung des öffentlichen Raums, besser gesagt seiner noch bestehenden Reste. Es gibt kaum noch soziale Orte, an denen man miteinander direkt, offen und persönlich über Politik diskutieren und von Angesicht zu Angesicht streiten kann. Es fehlen Räume, Veranstaltungen, Treffpunkte und Ansprechpartner. Wo also kann man "mal reden"?

Dieser Mangel ist dadurch verschärft, dass es seit jeher in ländlichen Gegenden eher ungewöhnlich ist, offen über politische Streifragen zu sprechen. Man handelt das "unter sich" aus, besonders wenn noch eine DDR-Prägung hinzukommt. Dann politisiert man lediglich im Familien- und Freundeskreis: bei Geburtstagsfeiern, Hochzeiten oder Jubiläen. Ortsfremde und Andersdenkende haben hier kein Rederecht, ja nicht einmal Zutritt.

Auch in den Weiten des Internets bleibt man gern "unter sich"

Nun ist inzwischen auch auf dem Dorf die Kommunikation über Facebook und WhatsApp zum Standard geworden. Das bedeutet jedoch nicht, dass man sich jetzt mit persönlich Unbekannten auseinandersetzt. Vielmehr überträgt man die alteingeübte Nah-Kommunikation unter Gleichgesinnten in die geschlossenen Gruppen der sozialen Netzwerke. Auch in den Weiten des Internets bleibt man also "unter sich". Die argumentative Auseinandersetzung mit anderen, von der die Demokratie doch lebt, bleibt auch hier aus.

Dieses Nicht-Diskutieren verbindet sich nun allzu oft mit dem Gefühl, dass "die da oben uns eh nicht zuhören". Sven Petry, Pastor in Frohburg bei Leipzig und ehemaliger Ehemann von Frauke Petry, beschreibt dies in einem ebenfalls sehr klugen Text im selben Band. Ebenso wie Kasparick weiß er, dass man auch als Dorf- oder Kleinstadtpastor in den neuen Bundesländern hohe Schwellen überwinden muss, um mit AfD-Wählern in ein echtes Gespräch zu kommen. Aber ebenso wie sein Kollege aus der Uckermark fordert er dazu auf, diese Herausforderung anzunehmen. Dazu brauche man "Vertrauen auf die eigene Botschaft, auf die Kraft des Wortes und den Sinn des Dialogs." Man müsse die analogen und digitalen Orte der Begegnung aufsuchen, sich zeigen, zuhören, selbst Position beziehen und in die Auseinandersetzung gehen.

Pastoren und Kirchengemeinden, die dies - in nicht geringer Zahl - tun, müssen allerdings damit rechnen, zum Objekt gezielter und massiver Anfeindungen zu werden. Manche von ihnen haben inzwischen fast den Eindruck, als wolle die AfD die vormalige Christenbedrängung durch die SED mit anderen Mitteln fortsetzen. Dennoch gebe es, so Ulrich Kasparick, keinen anderen Weg als: "hinein ins Getümmel!"

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