Ein Aufsatz:Fünf für ein W

Der Leipziger Kulturpädagoge Johannes Martin Hanf hat untersucht, wie sich Parteifunktionäre in totalitären Regimen in Fragen der Spieltaktik beim Fußball einmischten. Fazit: Das Angriffsspiel konnte ihnen gar nicht offensiv genug sein.

Von Rudolf Neumaier

Die Fußballer der BSG Motor Oberschöneweide verloren sehr oft, aber sie spielten vorbildlich. Immer munter nach vorne. So gefiel es den Genossen. Genau diese Spielweise repräsentierte den Sozialismus auf dem Platz. Dass andere Mannschaften in der DDR-Oberliga schon mit zwei Vorstoppern verteidigten, wie es im kapitalistischen Westen praktiziert wurde? Grauenhaft. Die Sportfunktionäre des Arbeiter- und Bauernstaates forderten: "Heraus aus der Defensive!" Und so blieb die Oberschöneweider Mannschaft Spiel für Spiel ihrer sozialistischen Angriffstaktik treu. Am Ende der Saison 1952/53 kassierte sie sechs Pleiten hintereinander. Sie stieg ab.

"Heraus aus der Defensive!" - so heißt auch der Beitrag des Leipziger Kulturpädagogen Johannes Martin Hanf in dem von Markwart Herzog herausgegebenen Aufsatzband "Die 'Gleichschaltung' des Fußballsports im nationalsozialistischen Deutschland" (Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2016. 468 Seiten, 30 Euro). Hanf beschreibt "Politische Initiativen für Offensivfußball" in der DDR, im Nationalsozialismus und in der spanischen Franco-Diktatur. Wer geglaubt hat, Fußball sei nur ein Spiel und habe mit Politik nichts zu tun, wird sich über die skurrilen Initiativen wundern, mit denen sich Parteifunktionäre in Fragen der Spieltaktik einmischten.

Schon den Nationalsozialisten konnte Fußball nicht offensiv genug sein. Reichstrainer Sepp Herberger orientierte sich am englischen Spielsystem, in dem die Sturmreihe mit fünf Mann wie ein W aufgestellt war und die Abwehr wie ein M. Die Taktik der Reichsauswahl wurde zu einem Politikum, als sich Karl Oberhuber einschaltete. Oberhuber war Gaufachwart Fußball in Bayern und führte parteipolitische, wehrpädagogische sowie militärstrategische Argumente gegen Herberger ins Feld. Allein die britische WM-Taktik erwies sich als erfolgreicher: Herberger setzte sich ebenso durch wie mancher Trainerkollege in Spanien, der mit reaktionären Spielvorstellungen falangistischer Ideologen konfrontiert war. Statt ihrer Mannschaft, der "Furia Española" eine Taktik aufzuzwingen, wollten sie ihre Spieler wie bisher improvisieren lassen - mit Enthusiasmus, Opferbereitschaft und höchstem physischen Aufwand. Mit dem politisch unbeliebten WM-System kickten sie jedoch besser.

Vorstopper, der kranke Mann im Fußball - eine Devise, der man jedoch besser nicht folgte

In der DDR fachte das Fachorgan Die Neue Fußballwoche eine Debatte über die Spielsysteme an. Ein Beitrag hatte den Titel "Vorstopper - der kranke Mann im Fußball", die Zeitung attackierte darin den Westen für die "Anwendung übertriebener Defensivtaktiken" und erklärte diese für politisch schädlich. Wer sich an diesen Maßgaben orientierte, vertraute jedoch den falschen Ratgebern. Das gleiche Schicksal wie Motor Oberschöneweide ereilte die Kicker der BSG Stahl Thale im Sommer 1954: Sie stiegen ab, und das mit dem miserabelsten Torverhältnis der Liga. Ihr Trainer hatte den Vorstopper gestrichen, obwohl die Mannschaft mit diesem System gute Erfolge erzielt hatte.

Das große Vorbild der DDR-Fußballer waren, wie man sich denken kann, die sowjetischen Sportgenossen. Dynamo Moskau erregte Anfang der Fünfziger international Aufsehen. Sie spielte bei einer Tournee durch Großbritannien die heimischen Teams an die Wand. Sie wandte ein Kurzpassspiel an, das Fachleute als "Passowotschka" bezeichneten und womöglich so etwas wie eine frühe Form der Tiki-Taka-Spielweise des spanischen Trainers Pep Guardiola darstellte. Hanf zitiert Dynamo-Trainer Michael Jakuschin, der auf die Frage nach Zusammenhängen zwischen Spielweise und sozialistischer Ideologie sagte: "Der sowjetische Fußball folgt dem Prinzip des Kollektivspiels." Alle DDR-Versuche, den Moskauern nachzueifern, scheiterten - von wenigen Ausnahmen abgesehen wie dem 1:0-Sieg gegen die BRD bei der Weltmeisterschaft 1974.

Es musste etwas geschehen. "Die fortschrittliche sozialistische Klassenideologie erfordert und bedingt grundlegend eine moderne Spielweise", schrieb ein Fußballgenosse in der Neuen Fußballwoche. Die Vorgaben der Sportfunktionäre zitiert Hanf aus Archivalien des Ministeriums für Staatssicherheit. Zum Beispiel teilten sie vielen Oberliga-Vereinen Mitte der Achtzigerjahre neue Trainer zu. Bevor die DDR zu einer Fußballgroßmacht wurde, fiel jedoch die Mauer.

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