Ein Aufsatz:Die ephemere Stadt

Der 2015 verstorbene Historiker Siegfried Mattl zeigt in seinem Band mit gesammelten Schriften "Die Strahlkraft der Stadt", wie das Kino Raumgefühl findet. Für ihn war der Film in seinen Anfängen eine urbane Praxis der Massengesellschaft.

Von Fritz Göttler

Die Berlinale, die in diesen Tagen Berlin aufmischt, das bedeutet nicht nur Filmkunst in internationaler Konkurrenz und höchster Konzentration, skandiert von heftigen Debatten im cineastischen Raum - nein, die Berlinale versteht sich, demonstrativ, seit langem als populäres, als Publikumsfestival, und erprobt jenseits des Wettbewerbs auch das Verhältnis von Kino und Stadt. Die Filme werden aus dem Berlinale-Dunstkreis um den Potsdamer Platz geholt, in die Stadtteilkinos geschickt, dazu wird der öffentliche Raum bespielt. Ein Fest der Dezentralisierung.

Das Kino im öffentlichen Raum, wie seine Beziehung zur und sein Blick auf die Stadt sich formiert und damit beiträgt zum Konzept der Urbanität im 20. Jahrhundert - von dieser Dialektik handelt das Werk des Historikers Siegfried Mattl, der im Jahr 2015 gestorben ist und dessen Arbeiten übers Kino voriges Jahr vom Filmmuseum Wien herausgegeben wurden (Siegfried Mattl: Die Strahlkraft der Stadt. Schriften zu Film und Geschichte. Hrsg. Drehli Robnik. Synema - Gesellschaft für für Film und Medien, Wien 2016, 271 Seiten, 22 Euro).

Mattl geht zurück an den Ursprung des Kinos, bevor es eine Kunst wurde und durch Regelwerk und Ästhetik in den Kanon bürgerlicher Künste strebte. Er ist fasziniert vom Ephemeren des Kinos, wie es etwa in Wochenschauen oder Amateurfilmen sich präsentiert, in denen Zufälligkeit den Blick bestimmt, frei von vorbestimmter Bedeutung und Intention. Er spürt diesem Blick nach in allen möglichen Filmen aus der Stadt Wien (die wohl auch das aufregendere Filmfestival hat als Berlin).

Im ersten Text des Bandes, einem Vortrag, den Siegfried Mattl im Oktober 2003 im Filmmuseum in Wien hielt, geht es um die ersten Filme, die französische Kameraleute der Brüder Lumière und der Firma Pathé in der Stadt Wien machten, langsame Kamerafahrten den Ring und andere Straßen entlang; er trägt den schönen Titel "A Sense of Place", und dieser Sinn für den Raum meint durchaus die Essenz des Kinos. "Das Kino trainiert Menschen, mit der Fülle und dem Tempo optischer Eindrücke in der Stadt umzugehen ... Die Bilder - etwa der phantom ride der Pathé-Kameraleute am Ring in ,Vienne en tramway' - fügen dem Gezeigten etwas hinzu, machen aus möglicherweise beliebigen Räumen bestimmte Orte: Orte, die es wert sind, gefilmt und betrachtet zu werden oder zum Gesprächsstoff zu werden. Der Film konstruiert bereits damit einen sense of place - Sinn und Gefühl für den Ort, unabhängig von der Erfahrung des Einzelnen und von kulturellen Konventionen."

Einen dramatischen, geradezu mythischen Kontext hatte ein solcher phantom ride im Jahr 1906 in San Francisco bekommen: Im April steckten die Miles Brothers eine Kamera auf die Plattform eines Cable Car, das langsam von der 8. Straße zur Fährstation fuhr. Ein Werbefilm für die Stadt sollte es sein, aber wenige Tage später zerstörte ein Erdbeben die Stadt und der Film wurde Erinnerungsstück.

Siegfried Mattls Text ist von dem Begriff der Erinnerungsorte geprägt, der, von Frankreich ausgehend, Anfang des neuen Jahrhunderts, die Diskussion der Historiker und später die Politik bestimmte. Das konservative Moment aber, das diesem Begriff innewohnt, ignoriert Siegfried Mattl: "Der frühe Film zeigt die Szene der Stadt, aber zugleich stellt er diese Szene, d. h. das Vergnügen an der Zirkulation der Bilder, selbst her ... Der frühe (dokumentarische) Film ist eine neue urbane Praxis, die nicht zuletzt durch die Zurechnung des Kinos zu den sozialen Räumen der Unterschichten territoriale Ansprüche der ,städtischen Massen' begleitet."

Solche natürliche Widerständigkeit des Kinos studiert Siegfried Mattl in den anderen Texten des Bandes auch, in der Tradition von Siegfried Kracauer, Henri Lefebvre, Walter Benjamin, Jacques Ranciere oder Louis Aragon - der sich besonders intensiv der Auffindung und der Rettung des Ephemeren gewidmet hat, der Frage nach dem Schicksal des Urbanen - "nach jenem sozialen Raum der Diversität, der nicht anders als durch das Gefühl eines Verlusts evoziert wird."

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