Ein Aufsatz:Asyl und Arbeit

Migration, Flucht, Asyl - die Begriffe beschreiben unterschiedliche ökonomische, politische und rechtliche Aspekte. Zeit, die Begriffe zu klären: Das unternimmt die Zeitschrift "Mittelweg".

Von Gustav Seibt

Migration, Flucht, Asyl: Die Begriffe beschreiben unterschiedliche ökonomische, politische und rechtliche Aspekte einer historischen Realität, von der die deutsche Öffentlichkeit derzeit mit erstaunlicher Vehemenz aufgewühlt wird. Erstaunlich ist die Aufregung, weil auch Deutschland nie ein nationalstaatlicher Container ohne massive Wanderungsbewegungen war.

Seit dem Ende der napoleonischen Kriege wanderten über 7 Millionen Deutsche nach Nordamerika aus, am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden über 12 Millionen aus Osteuropa vertrieben, seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhundert erreichte uns die Arbeitsmigration aus dem Mittelmeer, seit den Neunzigerjahren kommen Kriegsfluchtwellen aus dem Balkan, dem Nahen Osten und Afrika. Zeit, die Begriffe zu klären. Das leistet ein kompakter Beitrag von Dirk Hoerder im neuen Heft der Zeitschrift Mittelweg 36 ("Arbeitsmigration und Flucht vom 19. bis ins 21. Jahrhundert", in: Heft 1, 2016, 9,50 Euro). Arbeitsmigration verläuft in globalen "Systemen", innerhalb derer Wanderungsrouten, Kommunikationswege und Geldströme verlaufen, und zwar in beide Richtungen: Keine Wanderung ohne Rückwanderung, kein Aufbruch ohne Informationen aus dem Zielland, keine Bewegung ohne Kostenkalkulation. Das uns am nächsten liegende europäisch-atlantische System ist nicht das größte - in Ostasien und am indischen Ozean machten sich in den letzten anderthalb Jahrhunderten 150 Millionen Menschen auf den Weg.

Hoerder typologisiert nicht nur Räume, sondern auch Formen der Migration: Vor der freiwilligen Arbeitsmigration stand oft die Zwangsmigration durch Sklavenhandel, Fluchtbewegungen vor Krieg und Gewalt können "proaktiv", also mit Vorplanung und finanziell abgesichert verlaufen oder "reaktiv", im letzten Moment, mit unsicheren Informationen. Solche Konstellationen hängen auch an den Aufnahmeländern - je länger die Realität verleugnet wird, desto unfähiger zeigen sich die Verwaltungen, desto kostspieliger und chaotischer wird die Aufnahme. Anpassungen werden von Gruppen, nicht von Individuen geleistet; Flüchtlinge müssen sich radikaler anpassen als Arbeitsmigranten mit ihren Netzwerken; Totalassimilation ist immer die Ausnahme.

Je moralisch höher das Asylrecht steht, desto strenger werden die Antragsteller behandelt

Langfristig haben Migrationssysteme die Tendenz, sich selbst zu regulieren - wo Chancen fehlen, bleiben bald auch die Migranten aus. Allerdings setzt das die Abhilfe bei elementarer Not voraus - im jüngsten Fall Syrien hat es eine kurzsichtige europäische Politik sogar daran fehlen lassen. Fatal ist auch die Steuerung durch den Flaschenhals eines Asylrechts, das nur unvollkommen auf die Wirklichkeit und die völkerrechtlichen Regelungen der Fluchtbewegungen vor Krieg und Verfolgung antwortet. Hier hat sich, wie Didier Fassin im selben Heft darlegt, seit den Siebzigerjahren eine fatale Veränderung vollzogen: Je exklusiver und moralisch höher bewertet das Recht auf Asyl wurde, umso misstrauischer wurden diejenigen geprüft, die es in Anspruch nehmen wollen.

Heute liegen in Mitteleuropa die Ablehnungsquoten bei neunzig Prozent, während in den Siebzigerjahren die meisten Bewerber noch anerkannt wurden - Folge eines veränderten Arbeitsmarkts, der wirtschaftliche Migration fast ausschließt und das Phantasma des "Asylschwindlers" hervorbrachte. Damit geht eine bezeichnende Veränderung der Anerkennungsgründe einher: Die besten Aussichten haben nicht mehr politisch oder religiös Verfolgte, sondern Frauen, die vor drohender Genitalverstümmelung fliehen, und Homosexuelle. Die Gewährung von Asyl wird zur Demonstration genderpolitischer Liberalität im Kampf der Kulturen, zur globalen Maßnahmepädagogik.

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