Eigenleben der Musikwiedergabegeräte:Hülle des Wohlklangs?

Lesezeit: 6 min

Protzig prangt sie im Zimmer eines jeden Technikliebhabers: die teure HiFi-Anlage. Doch wie viel der originären Musik bleibt, nach dem Spielen an den blinkenden Reglern?

Thomas Steinfeld

Im Hauptgesellschaftsraum des "Berghof", den Thomas Mann im "Zauberberg" fern der Welt auf eintausendsechshundert Meter Höhe einrichtet, steht eines Tages ein neues "Unterhaltungsgerät": ein mattschwarz gebeizter "Schrein", der mit einem seidenen Kabel an einen elektrischen Steckkontakt angeschlossen ist. "Das ist kein Apparat und keine Maschine", ruft Hofrat Behrens, "das ist ein Instrument, das ist eine Stradivarius, eine Guarneri, da herrschen Resonanz- und Schwingungsverhältnisse vom ausgepichtesten Raffinemeng!"

Aber das Bewusstsein, dass hier nicht leibhaftige Künstler, sondern nur ihre Stimmen auftreten, in Gummi oder Kunststoff gepresst, hat die ewigen Rekonvaleszenten noch nicht erreicht. Ein italienischer Tenor auf Schallplatte singt ihnen den Figaro vor. Noch bevor er geendigt hat, bricht die kleine Schar in Bravorufe aus.

Dann zieht sich der Hofrat Behrens zurück, und Hans Castorp, der Ingenieur ohne Berufserfahrung, übernimmt die Bedienung des schwarzen Kastens, "mit der bestimmtesten Ahnung neuer Passion". Denn erst mit dem Grammophon wird das Sanatorium in den Bergen komplett.

Metamorphose der Musik

Hofrat Behrens ist in dieser Geschichte weitaus klüger, umsichtiger als die anderen Gäste des Sanatoriums. Denn während diese den Apparat behandeln, als wären Sänger und Orchester gleichsam in ihn eingeschlossen, als musizierten sie, zu Miniaturen ihrer selbst geschrumpft, irgendwo in diesem Apparat, erhebt er diesen zu einem Instrument. Er allein scheint wirklich zu wissen, dass ein Grammophon nicht nur Töne wiedergibt, sondern auch schafft, dass es weit mehr ist als eine Maschine zur Reproduktion von vorhandener Musik - dass es diese gestaltet, verändert, ja sogar produziert.

Jedes Reproduktionsmedium entwickelt dieses plastische, formprägende Verhältnis zu dem Material, dass es in sich aufnimmt. Das ist so seit den Anfängen der technischen Aufzeichnung und Wiedergabe von Musik, seit den wächsernen Walzen von Thomas Alva Edisons Phonograph. Die Musik ändert sich, wenn sie mechanisch festgehalten wird. Und mehr als das: auch das Hören verändert sich. Der Applaus vor dem Grammophon erstirbt in dem Maß, in dem es um sich herum seinen eigenen, von der Erinnerung an den Konzertsaal gelösten Raum des Hören entstehen lässt.

Standard Vinyl

Seit über hundert Jahren lässt sich Musik technisch reproduzieren. Die Entwicklung ging vom Phonographen zum Grammophon mit der Schallplatte, von der Schellackscheibe über die Langspielplatte und das Magnetband bis zur CD, von der wächsernen Walze bis zum digitalen Speicher. Die längste Zeit schien dabei der technische Fortschritt vor allem einem Prinzip zu gehorchen: die Differenz zwischen dem, was sich vor den Mikrophonen ereignet, und dem, was die Lautsprecher wiedergeben, so klein wie irgend möglich werden zu lassen.

Diesem Ideal war die Entwicklung der Langspielplatte in den vierziger Jahren ebenso geschuldet wie der Standard der High-Fidelity (DIN 45500) in den Sechzigern. Dieses Ideal hatte zur Folge, dass die technischen Mittel zur Reproduktion von Musik immer aufwendiger, immer leistungsfähiger, immer großartiger wurden. Bis diese Entwicklung, zumindest insofern sich der Rezipient, der gemeine Hörer von Musik, damit beschäftigte, allmählich aufhörte.

Seit wann ist das gute Hören kein gesellschaftliches Projekt mehr? Der allergrößte Teil der Stereoanlagen, der heute verkauft wird, wird in Supermärkten erworben. Das sind große und kleine Anlagen, starke und schwache - aber das Ideal der treuen Wiedergabe spielt für sie eine ebenso geringe Rolle wie für die technischen Skulpturen, mit denen die Musik den Raum auch dann noch verschönern soll, wenn sie schweigt.

In weit größerem Maße, als man annehmen möchte, ist in den vergangenen Jahren der Abstand zwischen dem originalen Klang der Stimmen und Instrumente und dem Klang, der von Musikanlagen hervorgebracht wird, gewachsen. Originalgetreues Hören wird immer häufiger als Enttäuschung wahrgenommen, so sehr hat man sich an fette Bässe, weiche Mitten und einen kristallinen Diskant gewöhnt - nur, dass die Verfremdung des ursprünglichen Klangs nun eine Beherrschung der technischen Möglichkeiten voraussetzt, während sie früher Ausdruck ihrer Unvollkommenheit war.

Sang und klanglos untergegangen

Nirgendwo ist diese Differenz so auffällig wie bei den Reproduktionen von Musik, bei deren Entstehung ein Computer für den Hausgebrauch mitwirkt: Das MP3- oder AAC-Format beraubt die Vorlage in der Regel ganzer Frequenzbereiche. Es lässt die Bässe oft hohl und plump erscheinen, der Diskant hat dann den Reiz von raschelndem Papier, der gesamte Klang ist aufdringlich und oberflächlich.

Doch kaum einer scheint diese Verluste zu bemerken - im Gegenteil: Es gibt Werke der populären Musik, die schon auf CD so klingen, als hätte jemand sie privat auf einen iPod kopiert: "Crazy" von Gnarls Barkley, der Sommerhit des vergangenen Jahres, ist ein Beispiel dafür. Und das ist kein Versehen: Vielmehr ist hier eine technische Reduktion, die aus pragmatischen Gründen vielleicht sinnvoll war, selbständig geworden und hat eine eigene Ästhetik hervorgebracht.

Und die Differenz wird nicht mehr bemerkt, weil auch die Musik, die aus dem Radio kommt, nicht mehr anders klingt - ja, nicht einmal der Vergleich mit der klassischen Musik im Rundfunk bringt hier einen erkennbaren Unterschied hervor, weil auch diese oft längst mit Kompressoren bearbeitet und in ihrer Dynamik reduziert wird.

Musik als Privatveranstaltung

Diese Minderung klanglichen Reichtums lässt sich als kultureller Verlust beklagen. Man kann sie aber auch so betrachten, wie Hofrat Behrens das Grammophon sieht: als Moment einer musikalischen Reproduktion, die etwas ganz anderes darbietet als die Musik, die sie vermeintlich lediglich wiedergibt. Die originale Musik und ihre technische Reproduktion sind nicht identisch, sie können weit auseinanderliegen, und die naturgetreue Wiedergabe ist nur ein gleichsam philologischer, letztlich aber willkürlicher Versuch, beides so eng wie möglich miteinander zu verknüpfen.

Es gibt keine Pflicht, dass ein Orchester auf der Platte so klingen muss wie in einem Konzert - und wirkt es umgekehrt nicht absurd, wenn der ganz auf die Musik konzentrierte Hörer in seinem Wohnzimmer auf die sanft glühenden Lämpchen seines Verstärkers starrt, während der Konzertbesucher, und auch der konzentrierte, ein ganz anderes Schauspiel zu sehen bekommt?

Die Geschichte der technischen Reproduktion von Musik erzählt nicht nur von Fortschritten ihrer naturgetreuen Wiedergabe, sondern auch von ihrer zunehmenden Privatisierung. Wenn auf dem "Zauberberg" die Patienten zunächst noch applaudieren, nachdem eine Schallplatte auf dem Grammophon abgespielt wurde, es bald aber schon nicht mehr tun, dann schrumpft nicht nur der imaginäre Konzertsaal, in den sie sich versetzt glaubten.

Es öffnet sich zugleich der Raum des einsamen Hörens, in dem das Konzert kein soziales Ereignis mehr ist, sondern eine Privatveranstaltung des Individuums. Bald verbringt Hans Castorp die Nächte allein mit dem Apparat.

Und wenn die große Stereoanlage noch immobil ist, zumeist unbeweglicher noch als ein Orchester, so ist es der Ghettoblaster nicht mehr, und mit dem MP3-Spieler ist die Musik eine so innige Verbindung mit dem Rezipienten eingegangen, dass sie sich de facto in dessen Ohr eingenistet hat - unerreichbar für jeden außer für ihn selbst. Privatisierung und Mobilisierung musikalischer Reproduktion greifen hier ineinander, und was der Hörer womöglich an technischer Qualität verliert, das gewinnt er an Intimität mit seiner Musik.

Das Ende des Perfektionismus

Seitdem es eine technische Reproduktion von Musik gibt, ist diese nicht nur den akustischen Ereignissen gefolgt, beseelt vom Ehrgeiz, sie möglichst genau zu fixieren und wiederzugeben. Vielmehr hat sich zugleich die Musik an die Bedingungen und Möglichkeiten ihrer technischen Reproduktion - und dazu gehören essentiell die Aufnahmetechniken - angepasst.

Das beginnt bei der Länge der Stücke - denn nicht nur die drei Minuten Spielzeit eines Popsongs sind eine Hinterlassenschaft der Schellack-Platte, sondern auch die Länge von Igor Strawinskys "Serenade für Klavier". Das extensive Vibrato der Streicher auch in der klassischen Musik, einige große Triumphe des Tenors und die Dominanz des Saxophons im Jazz sind Reaktionen auf technische Probleme der Tonaufzeichnung, die in den musikalischen Standard eingegangen sind.

Und wenn in der populären Musik, beginnend mit Alben wie "Can't Buy A Thrill" von Steely Dan oder "Ummagumma" von Pink Floyd, Mischpulte auf den Schallplattenhüllen abgebildet sind, dann geschieht dies auch, um zu dokumentieren, in welchem Maße das Studio zu einem eigenen Instrument geworden ist - in dem, das ist offenbar, Resonanz- und Schwingungsverhältnisse von großem Raffinement herrschen.

Wahrhaftige Klangerlebnisse

Die Neigung zur großen Stereoanlage, der Kult der treuen Wiedergabe markiert in der Kulturgeschichte der musikalischen Reproduktion ein Zwischenstadium. Nicht nur, weil diese Geräte auf dem Weg vom Konzertsaal zur Maschine im Ohr des Hörers die Mitte darstellt, weil sie eine private Öffentlichkeit entsteht lässt, sondern auch, weil sich in ihr der Respekt vor dem Werk und das persönliche Verfügen über die Musik noch die Waage halten.

Gewiss, die Schallplatten wie die Geräte sind Eigentum ihres Hörers. Er ist es, der die Musik auswählt, zu einem Zeitpunkt, der ihm passt, an einem Ort, wo er nicht hingehen muss, weil er dort zu Hause ist, und er hört in einer Lautstärke, die ihm genehm ist. Doch gleichzeitig ist auch der Dienst am anderen noch da, das Bestreben, den Musikern, ihrer Musik, ihrem Klang zur größtmöglichen Geltung zu verhelfen, ihnen Treue und Wahrhaftigkeit zukommen zu lassen.

Rigides spielen am Regler

Wann kippt diese Balance? In dem Augenblick, in dem der Hörer beginnt, sich selbst zum Interpreten der Musik zu machen und die Regie übernimmt. Dieser Übergang kündigt sich an, wenn die Kenntnis der technischen Eigenschaften der Musikanlage größere Bedeutung annehmen als das Wissen um die Musik, die darauf abgespielt wird.

Er setzt sich fort, wenn auf jeder erreichbaren Musikanlage, im Auto wie zu Hause, die Regler für Tiefen und Höhen aufgedreht werden, um vermeintlich die sinnliche Wirkung der Musik zu verstärken. Und er ist vollendet, subjektiv und individuell geworden, wenn die reproduzierte Musik ihre Gegenständlichkeit verliert und nur noch als undingliche, abstrakte Datenmenge zur Verfügung steht, die jederzeit und überall abzurufen ist.

Es ist, als hätte Thomas Mann diese Entwicklung schon geahnt: Denn dem Kapitel "Fülle des Wohllauts", in dessen Zentrum das Grammophon steht, folgt im "Zauberberg" das Kapitel über den Spiritismus, komplett mit Tischerücken und Stimmen aus dem Geisterreich. Das letzte, was man von einem Gespenst erwarten würde, ist die treue Wiedergabe eines Ereignisses, das tatsächlich stattgefunden hat.

© SZ vom 18.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: