"Dschungelbuch" im Kino:Hier bin ich Affe, hier darf ich's sein

"Dschungelbuch" im Kino: Affe Louie hat in "The Jungle Book" King-Kong-Ausmaße angenommen.

Affe Louie hat in "The Jungle Book" King-Kong-Ausmaße angenommen.

(Foto: Disney)

Wie verhält sich die Neuverfilmung von "The Jungle Book" zu der umstrittenen Buchvorlage des Engländers Rudyard Kipling?

Von Alexander Menden

Im Abspann des gerade sehr erfolgreich angelaufenen Films "The Jungle Book" von Jon Favreau schließt sich ein Buchdeckel - der Einband von Rudyard Kiplings literarischer Vorlage. Ein Ende, das wohl suggerieren soll, man habe gerade eine werkgetreue Umsetzung der 1894/95 in zwei Bänden veröffentlichten Geschichtensammlung gesehen.

Tatsächlich ist Favreaus Film vielmehr eine Art Meta-Version, die sich vor allem auf den Zeichentrickklassiker von 1967 bezieht, der ebenfalls vom Disney-Filmstudio stammt. Das führt zu seltsamen Szenen, etwa der Neuinszenierung von King Louies lustigem "Ich wäre gern wie Du"-Lied, das sich eher bizarr ausnimmt, wenn es ein extrem bedrohlich wirkender Orang-Utan von King-Kong-Ausmaßen singt. Dabei dürfte es nicht einmal die größte Herausforderung für den Regisseur gewesen sein, die beliebtesten Songs aus dem ersten Film in den neuen einzubauen, denn schon die Trickversion wurde einst kontrovers diskutiert. Es hatte damals Überlegungen gegeben, King Louie von Louis Armstrong sprechen und singen zu lassen. Das wurde verworfen, weil Disney zu Recht befürchtete, die Besetzung eines Affen, der ein "richtiger Mensch" werden will, durch einen schwarzen Musiker könne zu Rassismus-Vorwürfen führen (die dann trotzdem erhoben wurden).

Favreaus Version kommt nun zu einem Zeitpunkt heraus, da die Kritik am postkolonialen Erbe nicht zuletzt an britischen Universitäten Hochkonjunktur hat. Vor Kurzem erst scheiterte die Kampagne einer Gruppe Oxforder Studenten, die unter dem Motto "Rhodes muss fallen" forderte, die Statue des viktorianischen Politikers Cecil Rhodes aus ihrer Nische an der Fassade des Oriel College zu entfernen. Rhodes, Gründer des Diamantenproduzenten De Beers und Archetyp des britischen Imperialisten, sollte Platz machen, als Symbol für die Entkolonisierung "des Raums, des Kurrikulums und des institutionellen Gedächtnisses der Universität".

Kipling war ein typisches Produkt des alten britischen Empire

Inmitten dieser sensiblen Stimmung spekulierten britische und amerikanische Medien, wie "The Jungle Book" wohl mit dem vermeintlich kolonialistischen Charakter seiner literarischen Vorlage umgehen würde. Rudyard Kipling, der 1907 als erster Engländer den Literaturnobelpreis bekam, ist in Deutschland hauptsächlich wegen seiner "Dschungelbücher" beliebt. In der englischsprachigen Welt hat er ein ambivalentes Image. Einerseits wählten die Briten sein Gedicht "If", ein Loblied auf die Selbstdisziplin, mehrmals zu ihrem Lieblingsgedicht. Andererseits wird er heute für Werke wie "Kim" und die "Just So Stories", die zu seinen Lebzeiten sehr erfolgreich waren, auch als Imperialist und Kolonialist angefeindet.

Kipling war ein geradezu exemplarisches Produkt des alten Empire: Geboren am 30. Dezember 1865 als Sohn eines englischen Kunstlehrers in Bombay, schickten ihn seine Eltern im Alter von fünf Jahren nach England, wo er zunächst privat, dann in einem Internat erzogen wurde. 1882 ging er als Journalist zurück nach Indien. Hier begann er, erste Prosastücke und Gedichte zu verfassen und feierte 1888 mit "Plain Tales for the Hills" einen ersten literarischen Erfolg in England, wohin er 1889 zurückzog. Er heiratete die Amerikanerin Caroline Balestier und emigrierte 1892 mit ihr in die USA. Hier entstanden seine beiden "Dschungelbücher".

Kipling schloss später Freundschaft mit Cecil Rhodes, den er in Südafrika kennenlernte, wo sich unter dem Eindruck des Burenkrieges auch die imperialistische Haltung des Autors verhärtete. Er bekam den Beinamen "Dichter des Empire", und tatsächlich gibt es gute Argumente dafür, das "Dschungelbuch" als systemkonforme Allegorie einer imperialistischen Weltsicht zu verstehen, einer Kolonialpolitik, die England als Hüter und Herrscher "geringerer Völker" ansah. Imperiale Regeln und Gesetze sind dieser Welt ohne direkte imperiale Intervention eingeschrieben.

Interessanterweise betont der neue Film das "Gesetz des Dschungels" weit mehr als die frühere Disney-Version. Das Credo, die Stärke des Rudels liege im Wolf, und die Stärke des Wolfes im Rudel, wird mantraartig wiederholt. Selbst der tiefenentspannte Bär Baloo, der solche Sprüche bei Favreau zunächst noch als "Propaganda" verwirft, skandiert es vor dem finalen Kampf gegen den Tiger Shir Khan im Chor mit den anderen Tieren.

In den Büchern organisiert und strukturiert Mowgli den Dschungel um sich herum und ist am Ende zum Herrscher geworden. Allerdings ist es in dieser Lesart nie ganz klar, ob man tatsächlich die Tiere als das kolonisierte Volk verstehen sollte. In einer Erzählung fressen der Elefant Hathi und seine Söhne alle Nutzpflanzen eines indischen Dorfes auf, woraufhin die "Eingeborenen" völlig auf die Barmherzigkeit der britischen Herrscher angewiesen sind. Dies geschieht auf die Bitte Mowglis hin, der das "Menschen-Rudel" verachtet: "Sie sind faul, dumm und grausam. Sie töten Schwächere nicht, um sie zu fressen, sondern zum Spaß. Wenn sie satt sind, werfen sie ihre eigene Brut in die Rote Blume. Das habe ich gesehen. Es ist nicht gut, dass sie hier noch leben."

Die Tiere werden zu Vollstreckern des Gesetzes, sie gehen auf Strafexpedition, wie es die Briten nach dem indischen Aufstand von 1857 taten. Mowgli tritt nach seiner Rückkehr in die Menschenwelt schließlich selbst in den Dienst der Briten, und zwar als Waldhüter. Dennoch wäre es zu einfach, in ihm nichts weiter als den Idealtyp des Kolonialisten erkennen zu wollen (den findet man viel eher in der geradezu übermenschlichen Titelfigur des Kolonialromans "Kim" von 1900).

Mowgli ist komplexer, er ist hin- und hergerissen zwischen seinem Liebesbedürfnis und seinem Drang, zu kontrollieren und gefürchtet zu werden. Der Dschungel ist nicht nur ein Ort, der beherrscht werden muss, sondern zugleich auch ein Sehnsuchtsort - wie das Indien seiner frühen Kindheit es stets für Rudyard Kipling selbst blieb. Die New Yorker Literaturforscherin Diane Simmons erklärt diesen Dualismus mit einer Art Vertreibung aus dem Paradies: Der kindliche Narzissmus des kleinen Rudyard sei bis zu seinem fünften Lebensjahr stets durch die Umsorgung durch indische Diener in Bombay genährt worden. So schildert er in "Something of Myself" seine ersten Erinnerungen an Besuche des Obstmarktes von Bombay mit seiner Trägerin Meeta folgendermaßen: "Tagesanbruch, Licht und Farbe und goldene und violette Früchte auf Höhe meiner Schulter."

Der Kontrast hätte nicht größer sein können nach seinem Umzug nach England, wo ihn seine Schwester Trix drangsalierte, während die Eltern wieder nach Indien zurückkehrten. Eine Gouvernante tat mit harter Hand das Übrige, Kipling Lebensfreude und Selbstbewusstsein auszutreiben. Und so, wie Kipling den Verlust seines Geburtslandes betrauerte, betrauert Mowgli den Verlust des Dschungels. Er ist ein Fremder im Dschungel, er wird aber auch ein Fremder unter den Menschen sein: "Wie die Fledermaus zwischen den Tieren und den Vögeln fliegt", singt er, "so fliege ich zwischen dem Dorf und dem Dschungel. Diese beiden Dinge kämpfen in mir wie Schlangen im Frühling. Ich bin zwei Mowglis."

Das ist letztlich der entscheidende Unterschied zwischen dem Film und der Vorlage: Denn in Jon Favreaus Version muss Mowgli den Dschungel nicht verlassen. Die Tiere akzeptieren ihn als einen der ihren, nicht als Herrscher, sondern als Gleichen unter Gleichen, und Baloo sagt zu ihm: "Du kannst doch auch hier ein Mensch sein."

Eine einfache Lösung für das Problem der Ortlosigkeit, mit dem Kipling sein Leben lang zu kämpfen hatte. Aber vielleicht thematisiert Favreau diesen Zwiespalt ein andermal, denn nach den phänomenalen ersten Einspielergebnissen vom Wochenende ist "The Jungle Book 2" schon in Arbeit.

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