Dresden: Bomben vor 65 Jahren:Keinen Raum den Faschisten

Auf die Straße zu gehen, wenn es nicht erlaubt ist: Wie der Schriftsteller Ingo Schulze am Jahrestag der Zerstörung Dresdens zum Radikalen wurde und den Neonazi-Aufmarsch verhinderte.

Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden, ist ein deutscher Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm der Band "Was wollen wir? Essays, Reden Skizzen" (Berlin 2009).

Dresden: Bomben vor 65 Jahren: Brennende Barrikaden sollen zum 65. Jahrestag der Bombardierung Dresdens den Aufmarsch der Neonazis stoppen.

Brennende Barrikaden sollen zum 65. Jahrestag der Bombardierung Dresdens den Aufmarsch der Neonazis stoppen.

(Foto: Foto: Getty Images)

Der Zug nach Dresden fährt um 6.36 Uhr vom Berliner Hauptbahnhof ab. Bin ich ein Radikaler, ein Linker, weil ich mich trotz des Versammlungsverbots auf den Weg mache, um mich mit anderen zusammen dem Neonazi-Aufmarsch in den Weg zu stellen oder notfalls zu setzen?

Ich hätte jetzt gern jemanden, mit dem ich mich unterhalten könnte. Ich würde gern von dem Erlebnis erzählen, das ich in Berlin am 8. Mai 2005, zum 60. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung vom Nationalsozialismus, hatte, als Rechtsradikale durch Berlin marschieren wollten.

Wir hatten lange nicht gewusst, was wir tun sollten. Als aber die Polizei verbreiten ließ, sie werde die Straße Unter den Linden nicht räumen, sollten sich dort zu viele Gegendemonstranten versammeln, zogen wir los, damals noch mit Kinderwagen.

Es fehlten die Normalos

Nach einigen Umwegen kamen wir zur Schlossbrücke - und fühlten uns eigenartig, weil wir plötzlich zu den Alten gehörten. Die wenigen, die vierzig Jahre oder darüber waren, lächelten einander zu oder grüßten sich gar wie Erwachsene auf dem Spielplatz. Warum, so meine damalige Verunsicherung, überlassen wir so wichtige Dinge diesen Kindern? Es fehlten solche wie wir, die Normalos, die Etablierten, die ganz normalen Bürger, die ihrer Bürgerpflicht nachkamen.

Nach zwei oder drei Stunden und mehreren Aufforderungen der Polizei, die Straße zu räumen, wurde bekanntgegeben, dass der Marsch der Rechtsradikalen nicht stattfinde. Sie wurden in die Sonderzüge gebeten und mussten abfahren.

Ich hatte mich immer gefragt, warum die Dresdner es zulassen, dass seit mehr als zehn Jahren am 13. Februar Rechtsradikale durch ihre Stadt ziehen. Selbst in einer Kleinstadt wie Altenburg war (unter Mithilfe des Jenaer Aktionsbündnisses, das mit dem OB von Jena angereist war) es möglich gewesen, durch Sitzblockaden diese Umzüge zu verhindern.

Nur die Gegenaktionen wurden verboten

Diesmal hatte ein Bündnis "DresdenNazifrei" dazu aufgerufen, sich den Braunen in den Weg zu setzen. Und wir waren bereit, Ernst zu machen. Doch wie reagierte der demokratische Staat? Es war weder möglich, die Versammlung der Neonazis zu verbieten noch sie auf eine Kundgebung zu beschränken. Möglich war aber offenbar, jene Gegenaktionen zu verbieten, die den Marsch verhindern wollten. In der Presse triumphierte man, dass die Polizei jetzt "Pepperball"-Geschosse besitze, die dafür gut seien, "die Radikalen", "die Rechten" wie "die Linken" zum Heulen zu bringen.

Man trennte die Stadt, mit der Elbe als "natürlicher Grenze". Auf der Altstadtseite wollte man sich um 13 Uhr zu einer Menschenkette versammeln, auf der Neustädter Seite sollten die Neonazis bleiben und damit auch die Gegendemonstranten. Als Versammlungsort wies man den Rechtsradikalen den Schlesischen Platz vor dem Neustädter Bahnhof zu. Eine Tafel erinnert dort daran, dass von diesem Ort aus jüdische Dresdnerinnen und Dresdener in die Vernichtungslager deportiert worden waren.

Aus den Zugfenstern sieht Dresden noch menschenleer aus - nur überall lange Kolonnen von Polizeiwagen.

Die meisten Reisenden bleiben im Zug sitzen, als er am Hauptbahnhof hält. Die anderen aus meinem Waggon gehen zum Ausgang. Ich bin offenbar der Einzige, der die Regionalbahn zum Neustädter Bahnhof nimmt.

Der Schlesische Platz vor dem Neustädter Bahnhof ist zwanzig nach neun durch Gitter abgesperrt, vielleicht dreißig Jungen/junge Männer stehen in der Mitte zusammen. Die Strecke zum Albertplatz (ungefähr 400 Meter) ließe sich in Polizeiwagenlängen abzählen.

Als ich wenig später am Albertplatz bin, kommt mir aus der gegenüberliegenden Richtung eine Art Tanz- oder Karnevalsgruppe rosa gekleideter junger Leute entgegen, die Perücken tragen, geschminkt und herausgeputzt sind. Ihnen folgen die anderen, die bisher dort stehen.

Punks bibbern in der Kälte

Ich sehe Fahnen der Gewerkschaft, der "action antifasciste", einer Partei die sich MLPD nennt. Jemand singt zur Gitarre über Lautsprecher: "Keinen Fußbreit den Faschisten". Um diese Zeit sind es hier nicht mehr als 300 Leute, doch es werden schnell mehr. Eine Straßenbahn kommt nur mühsam hindurch, die Autofahrer müssen einen anderen Ausweg finden. Die Polizei schließt die Straße in Richtung Neustädter Bahnhof durch einen Kordon, greift aber nicht ein.

Es ist simpel und mag lachhaft klingen, aber auf die Straße zu gehen, wenn es nicht erlaubt ist, und dort zu bleiben, sind die schwierigsten Minuten (noch eine alte Erkenntnis vom Herbst 1989). Ich kenne niemanden hier, ich rufe ein paar Freunde an. Zwei sind schon auf dem Weg, die anderen wissen noch nicht, ob sie kommen, sie wollen 13 Uhr zur Menschenkette.

Warten auf die Reaktion der Polizei

Zwei Mietwagen fahren auf den Platz, einer mit Lautsprecherboxen, die Ladefläche des anderen ist eine Bühne. Von der verkündet eine Frau, die sich nicht vorstellt, aber offenbar die Sprecherin des Bündnisses "DresdenNazifrei" ist, dass dies hier eine genehmigte Kundgebung ist, auf der man gegen das Verbot der Demonstration demonstriert.

Das Verbot der Gegendemonstration macht nun dieses juristische Hick-Hack notwendig, das eigentlich nun niemanden mehr interessiert. Wichtig ist, wie die Polizei reagiert.

Nach einer Stunde, es sind jetzt vielleicht tausend Demonstranten da, suchen wir nach einem Ort, an dem es etwas Warmes zu trinken gibt. Dann treffen meine Freunde und ihre Familien ein.

Es gibt immer wieder Sprechchöre: "No, no, no pasaran!", Gewerkschaftsfahnen, Fahnen der Linken, auch eine blaue FDJ-Fahne ist dabei, Jusos, Attac, die Grünen/Bündnis 90. . . und zwischen allen hindurch die Polonaise der rosaroten Sambatänzer. Am wichtigsten sind die Nachrichten über die anderen Blockaden. Die Thüringer haben eine Straße blockiert und die Berliner ebenso. Es sind insgesamt wohl fünf Blockaden.

Die Menschenkette als Operettenstück

Es beginnen die Ansprachen. Dann singt Konstantin Wecker, ohne Klavierbegleitung. Danach eine Rednerin, die sich gegen die Diskriminierung des Bündnisses wendet und sagt, dass sie 13 Uhr zur Menschenkette gehen wolle. Ein paar Buhrufe und dann über Mikrofon der Kommentar: Es könne ja jeder gehen, wohin er wolle, aber gerade um diese Zeit sei es wichtig, hier zu bleiben. Wenn wir gehen, dann marschieren die Neonazis. Von hier aus gesehen ist die oberbürgermeisterliche Menschenkette eine Operettenaktion.

Es passiert dann nicht viel. Man steht da und wartet. So richtig unterhalten kann man sich auch nicht wegen der Musik, der Reden, der Kälte, der Unruhe. Es wird kein Mut verlangt, man muss sich nicht mal auf die feuchte, dreckige Straße setzen. Ein paar Jungs haben einen Fußball dabei. Unter den etwa dreitausend sind auch ein paar angetrunkene, in der Kälte bibbernde Punks.

Manchmal bewegen sich die Polizisten in ihrer Montur zum Rhythmus der Musik. Mit ihrem Plastebeinschutz ähneln sie Robotern. Einige Gesichter erkenne ich mittlerweile wieder, viele Frauen sind unter ihnen.

Wichtiger als Reden und Musik sind die Durchsagen von den anderen Blockaden. Denn wenn eine aufgelöst wird, sind wir hier vergeblich da. Ein Freund schlägt vor, dass man sich in Richtung Hansastraße auf den Weg macht, denn die Wahrscheinlichkeit sei wesentlich größer, dass man die Neonazis aus der Stadt hinauslaufen lasse.

"Wir sind weggerannt"

Das Gehen ist angenehm, aber schon nach ein paar hundert Metern ist Schluss. Eine Polizistin, den schwarzen Helm vor dem Bauch, erklärt uns, dass wir hier jetzt nicht durchkommen, "und Hansastraße ist jetzt gerade ganz schlecht". "Und wenn wir jetzt sagen, dass wir zu der Nazi-Demonstration wollen, lassen Sie uns dann durch?" "So sehen Sie aber nicht aus, als wollten Sie dahin."

Es bleibt jetzt nur zu hoffen, dass an den anderen Stellen genügend Leute sind. Wegen unseres Ausfluges verpassen wir die Rede des Jenaer Oberbürgermeisters Albrecht Schröter, eines Sozialdemokraten, der mit mehreren Bussen des Jenaer Aktionsbündnisses hier ist. Franziska Drohsel, die Juso-Vorsitzende, berichtet von einem Angriff der Neonazis auf ihre Gruppe - "wir sind weggerannt, etwas anderes blieb uns nicht übrig". Aber jetzt seien sie viele. Und die Polizei ist offensichtlich auch da.

Die Polizei ruft in größeren Abständen immer wieder dazu auf, den Platz zu räumen. Die bisher gebilligte Demonstration gegen das Versammlungsverbot ist mittlerweile nicht mehr gebilligt. Nach einigem Hin und Her erklärt sich die Versammlung zum Volksfest.

"Das war es mir wert"

Gegen drei kommt Unruhe auf, vielleicht hundert Jugendliche kommen angerannt, schwarz gekleidet, viele haben ein Rotkreuzpäckchen am Gürtel. Von Norden her sollen ungefähr tausend Neonazis zum Bahnhof gebracht werden. Zwischen 14.30 Uhr und 15.30 Uhr scheint es sich dann zu entscheiden, ob die Neonazis marschieren dürfen oder nicht. Und da nichts geschieht und die "Blockaden stehen" (der "Trauermarsch" ist nur bis 17 Uhr genehmigt) breitet sich allmählich das Gefühl aus, dass die Aktion geglückt ist.

Die Stimmung wird ausgelassener. Ich sehe die alte Dame aus dem Zug wieder. "Wir sind ziemlich früh aufgestanden", sage ich. "Das war es mir wert", sagt sie. Die beiden Damen, in deren Begleitung sie ist, sind, so stellt sich heraus, Bekannte meiner Mutter.

Die ersten Demonstranten von der Menschenkette, die man nach einer Kontrolle über die Brücke lässt, treffen ein. Sie sind erstaunt, wie es hier aussieht. Immer wieder: "Das haben wir ja nicht gewusst!" In den Dresdnern Zeitungen wurde vor der Neustadt gewarnt.

Man muss die Stadtregierung auffordern, diese Proteste hier zu unterstützen. Die Menschenkette hält niemanden auf. Wir müssen handeln, nicht nur Zeichen setzen. "Stellen Sie sich mal vor, die Dresdner Oberbürgermeisterin würde so handeln wie der Jenaer Oberbürgermeister", sage ich. Wir wären vereint in Antifaschismus und Gewaltlosigkeit! Das würde es auch der Polizei leichter machen.

Diejenigen, die es per Gesetz gar nicht hätte geben dürfen, haben durch ihren zivilen Ungehorsam erreicht, dass es zum ersten Mal keinen Marsch der Rechtsradikalen gibt.

Kurz nach vier brechen wir auf in Richtung Hauptbahnhof. Auf der Altstadtseite der Augustusbrücke werden diejenigen, die über die Elbe wollen, kontrolliert. Auf der anderen Seite scheint es der Alltag des Sonnabendnachmittags zu sein. Nur weniger Autos sind unterwegs.

Erst auf dem Bahnhof wieder Polizei. Als ich zu den Gleisen will, werden vor mir vier Jugendliche mit Strickmütze und Palästinensertuch zurückgewiesen. Ich frage, warum ich passieren darf und sie nicht. "Gehen Sie weiter", sagt der Polizist. "Lassen Sie nur", sagt einer der Jugendlichen zu mir, "das sind wir gewöhnt."

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