Drama:Sexualität und Wahrheit

Drama: Im Wettlauf gegen die Zeit: das Liebespaar Tim und John.

Im Wettlauf gegen die Zeit: das Liebespaar Tim und John.

(Foto: Pro Fun)

Schwule Liebe in Australien und erotische Experimente mit einer Tennissocke: das bezaubernde Drama "Holding the Man".

Von Philipp Stadelmaier

Ein Mann stürmt hastig eine Treppe hinunter, und dann durch die Straßen eines italienischen Dorfes zu einer Telefonzelle. Er ruft eine Frau an. "Wo saß John, damals, bei diesem Abendessen?", fragt er sie. Eine nebensächliche Frage, aber dennoch von großer Dringlichkeit. Von Anfang an spürt man, dass der Mann auf einem Wettlauf gegen die Zeit ist.

Wo also saß John beim Abendessen? Neben Tim natürlich - dem Mann, der rennt. Dies erfahren wir, wenn der Film vom Anfang der Neunziger zurückspringt, ins Australien von 1976. John spielt Rugby im College, Tim Theater: "Romeo und Julia" - einer Hetero-Tragödie, in der er schlecht aufgehoben ist. Denn Tim hat nichts für Julias übrig, nur für John. Das erste Mal küssen sie sich bei besagtem Dinner.

Ebenso wie Tim (Ryan Corr) ist Neil Armfields Film "Holding the Man" stets in nervöser Bewegung: In der Geschichte von Tim und John (Craig Scott) von 1976 bis 1994 jagt eine Facette die nächste. Erste Erfahrungen am College, Auseinandersetzungen mit der Familie, Engagement in der Schwulenbewegung, Probleme einer offenen Beziehung. Und dann, in den Achtzigern, der Ausbruch der Aidsepidemie. Mit der gleichen Energie, mit welcher der Film beginnt, springt er auch immer wieder zurück und dann hin und her zwischen diesen Zeiten und Erinnerungen - als würde er sie ständig nach neuen Facetten durchstöbern. Vielleicht deswegen, weil der Film auf der Autobiografie, den Erinnerungen des echten, 1994 gestorbenen Timothy Conigrave beruht. Die Energie des Films kommt auch daher, dass sich hier jemand erregt zu erinnern versucht, bevor er das nicht mehr kann. Irgendwie ist die Zeit schon abgelaufen, ist sie schon eine Zeit der Erinnerung.

Das Politische liegt hier in der schwulen Geschichte, aber ebenso im Brillanten der einzelnen Facetten, die mit großer Dringlichkeit zu einem kuriosen Ganzen verbunden werden müssen. So wird ein geworfener Ball mit dem Anziehen einer Fliege vor einer Theaterprobe, wird Rugby mit "Romeo und Julia" montiert. Tims Theaterlehrer im College sieht aus wie Michel Foucault, der just 1976 "Sexualität und Wahrheit" veröffentlicht hat. Und in einer irrwitzigen Onanieszene verbinden sich eine Dackelminiatur, eine Tennissocke und ein Mülleimer zu einer ekstatischen Einheit. Man könnte auch sagen: Es gibt das Leben, und dann gibt es das Spiel mit ihm. Also die Notwendigkeit, seine Versatzstücke in der Erinnerung kunstvoll und spielerisch zu vertäuen. Theater, Sport, Philosophie und Masturbieren: All das kann helfen, eine Biografie zu vollenden, um nicht zu sagen: mit Sperma zu verkleben. Aber das heißt nicht, dass der "harte Kern" des Lebens verschwindet. Wenn Tim später auf der Schauspielschule landet und dort mit seinem Schwulsein angibt, meint ein Lehrer zu ihm, er sei mehr als nur seine Sexualität. Als würde er ihm klarmachen: Jede Wahrheit wird immer auch gespielt. Und dennoch merkt Tim in diesem Moment, dass er doch niemals etwas anderes spielen kann als das, was er nun einmal ist.

Es gibt also das Spiel mit einem Leben, das aus Erinnerungen als Kunstwerk (Buch und Film) neu zusammengesetzt wird. Und es gibt das Unveränderliche im Leben - wie den Tod. Aus diesem Wettlauf gegen die Zeit, den der Protagonist nicht gewinnen kann, zieht Regisseur Armfield die verrückte Energie seines Films. Das Geniale dabei ist, dass er Leben und Werk auch miteinander aussöhnt. Denn am Ende fallen die Vollendung des Lebens und die Vollendung des Buchs, das dieses Leben erzählt, in eins. All das Rennen, all die freigesetzte Energie - sie dienen keiner Botschaft. Sondern nur dieser Vollendung eines Kunstwerks, das ein ganzes, pralles, gemeinsames Leben enthält, und das man nur noch mit jenem kurz zuvor geäußerten Satz von John kommentieren möchte: "Es war so einfach!"

Holding The Man, Australien 2015 - Regie: Neil Armfield. Buch: Tommy Murphy, Timothy Cothgrave. Kamera: Germain McMicking. Mit Ryan Corr, Craig Scott. Pro Fun Media, 127 Minuten.

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