Transatlantische Geschichte:Der große Bruch

Donald Trumps Abkehr von transatlantischen Werten und politischen Traditionen ist historisch einzigartig. Doch er ist derzeit nicht der einzige Regierungschef, der so agiert.

Gastbeitrag von Charles. S. Maier

Es ist kein Geheimnis, dass Donald Trumps Präsidentschaft eine Abkehr von bisherigen Führungsstilen darstellt, zu denen eine verlässliche Politik und der Glaube an eine atlantische Gemeinschaft gehörten, die sich seit den späten Vierzigerjahren entwickelt hat. Viele Intellektuelle und politische Akteure sind deswegen derzeit in einer Art Schützengrabenschock erstarrt.

Bevor Donald Trump Präsident wurde, kollidierten amerikanische und europäische Ziele und Werte eher selten und wenn, dann nicht so ungeheuerlich. Auf der US-amerikanischen Agenda stand zunächst der Sieg gegen Nazideutschland und dann das Eindämmen des sowjetischen Expansionismus, den Westeuropäer und Amerikaner beide als solchen verstanden. Der amerikanische Imperialismus beruhte auf Werten, welche die europäischen Alliierten teilten, auch wenn die Machtverhältnisse ungleich verteilt waren.

Einer der Schlüsselaspekte der amerikanischen Außenpolitik bestand darin, Werte als Interessen zu definieren. Das heißt, für die Amerikaner war die Verteidigung der Freiheit Teil ihres eigenen Lebens in Freiheit. Die politischen Akteure mussten dabei mit Besonnenheit vorgehen, immer im Bewusstsein, dass sie einen Krieg auslösen könnten. Das war nicht einfach. Unter John Foster Dulles haben die Amerikaner die Osteuropäer glauben lassen, sie würden in die Aufstände hinter dem Eisernen Vorhang eingreifen; ein unverantwortlicher Gebrauch von Rhetorik, wie der ungarische Volksaufstand 1956 zeigte. In anderen Fällen haben die Amerikaner ihre eigenen Werte verletzt, um autoritäre Verbündete zu unterstützen.

Die Tragödie dieses Moments: Europas Institutionen schließen die Lücke nicht, die die USA öffnet

Es ist leicht, die Vereinigten Staaten als scheinheilig zu beschuldigen, aber Ideale in einer nuklearen Welt mussten mit Einschränkung abgewogen werden. Und die Werte, welche die Amerikaner als Interessen verstanden, wurden auch von den Europäern als fundamental angesehen - die fast 70 Jahre alte Nato bezeugt dieses gemeinsame Ziel, das Donald Trump leider so schmerzlich auf die Probe gestellt hat.

Die Politik der Vereinigten Staaten besaß lange eine mehrdeutige Seite: Es ging ihr nie um ein Imperium - tatsächlich hat sie das immer abgelehnt - aber die US-amerikanische Politik hat immer beansprucht, anderen Großmächten Bereiche abzustreiten, die sie als zentral für die eigene Sicherheit erachtete: ob in Nord- und Südamerika, wie in der Monroe-Doktrin von 1823 proklamiert, mit der Politik der offenen Tür von 1899 an im westlichen Pazifik und in China, oder mit der Organisation ökonomischer und militärischer Unterstützung in Westeuropa in den späten Vierzigerjahren. Die Politik wurde imperial in dem, was Beobachter womöglich als traditionelle Vorstellung in Folge des Spanisch-Amerikanischen Kriegs auffassten. Und dann auch, trotz Ablehnung und mit noch hoffnungsvollen Konsequenzen, während der Präsidentschaft von George W. Bush, als ein unüberlegter Krieg im Irak begann und man sich eine nationale Sicherheitsstrategie zu eigen machte, die danach strebte, die absolute Vormacht zu bewahren. Der Übergang von "Führung" zu "Dominanz" ist ein raffinierter. Führung bedeutet, nach den Regeln zu arbeiten, die der Führende mit aufgestellt hat. Dominanz bedeutet, jemandem den Willen des Stärkeren aufzuzwingen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Vereinigten Staaten ein halbes Jahrhundert lang die Organisationsführung von globalen Institutionen übernommen, insbesondere die der Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation, und den Europäern geholfen, ihre eigene Währungsunion und schlussendlich die EU ins Leben zu rufen.

Die Politik von Donald Trump ist paradoxerweise nicht imperial. Sie ist oftmals schikanös und impulsiv. Der US-Präsident würde internationale Verpflichtungen eher aufgeben, als sie zu erweitern. Imperien benötigen meist eine Bindung an Werte und Regeln, nicht bloß die Projektion von Macht. Seit den Vierzigerjahren haben sich die USA um globale Sicherheit bemüht, aber mit dem Bestreben, gemeinsame Werte und gemeinsame Sicherheit zu finden. Die aktuelle US-amerikanische Führung hat keine Erinnerung an dieses Bemühen und kein Verständnis für das Empfinden, auf dem es beruht.

Europas eigene Institutionen sind momentan zu belastet, um ein Ersatz zu sein

Was die Europäer vermissen müssten - und manche tun das womöglich - ist gerade diese imperiale Anstrengung, die sie zu amerikanischen Verbündeten gemacht hat, auch wenn sie weniger mächtig oder wohlhabend waren. Das ist die Tragödie dieses gegenwärtigen Moments. Europas eigene kollektive Institutionen, von denen man hofft, sie würden Amerikas Rückzug aus der Führungsrolle ersetzen, stehen momentan unter zu hohen Belastungen, um ein solcher Ersatz zu sein.

Die EU ist mit einer vielschichtigen Krise konfrontiert, genau in dem Moment, in dem sich die amerikanische Politik von ihrer grundsätzlich wohlwollenden Orientierung verabschiedet hat. Drei von vier osteuropäischen Regierungen - und womöglich nun auch die Koalitionen in Italien und Österreich - vertreten eine Politik, welche die Werte der EU infrage stellt. Die Briten verlassen die EU. Und Deutschland und manche der skandinavischen EU-Länder unterscheiden sich von Frankreich - und augenscheinlich von Griechenland - bei der Frage, wie Finanzinstitutionen organisiert sein sollen.

Aber Trump ist nicht nur ein beispielloser Amokläufer. Er verkörpert auch die Reversion eines halben Jahrhunderts amerikanischer Politik, die dem Zweiten Weltkrieg voranging. Die früheren (und jetzt wiederkehrenden) Züge sind von ökonomischem Protektionismus und Isolation gekennzeichnet, von der Eruption des sogenannten Populismus, und nicht zuletzt von einem aufrührerischen Benehmen der politischen Führung und Diplomatie.

Um mit der überschlägigen Beteuerung von "America First" ("Amerika zuerst") und der Schutzzollpolitik zu beginnen: Was die normative Ordnung angeht, welche die USA nach 1945 mit ausgearbeitet haben, scheint der US-Präsident nirgends mehr zu spalten als im Bereich der internationalen Ökonomie und des Handels. Nichtsdestotrotz sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass die USA in ihrer Geschichte fast immer eine protektionistische Nation waren. Seit der ersten Regierung unter George Washington sprach sich Alexander Hamilton für einen Zollschutz der amerikanischen Industrie aus. Nach der Abweichung unter der Regierung von Woodrow Wilson verhängten die USA 1922 und 1930 erneut hohe Zölle und beförderten dadurch beim zweiten Mal die Große Depression der Dreißigerjahre. In keinem Punkt scheint die Trump'sche Politik so obsessiv und ignorant gegenüber der wirtschaftlichen Lage zu sein wie in der Überzeugung, die Handelspartner würden die USA ausbeuten. Es ist bezeichnend, dass die gesamte Zolldebatte nicht länger den Argumenten folgt wie zu Zeiten von Alexander Hamilton oder der Schutzzoll-Advokaten, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts für Zölle aussprachen, weil sie junge Industrien schützen wollten, die für den Weltmarkt noch nicht robust genug waren.

Heute fordert der amerikanische Präsident Zölle aus rein merkantilistischen, fast bullionistischen Gründen. Offenbar sieht er eine negative Handelsbilanz als Zeichen für Ausbeutung und ignoriert die durch Dienstleistungen erzielten kompensatorischen Überschüsse. Zudem hat er keinen Sinn für eine globale Balance und besteht darauf, dass zwischen den USA und jedem einzelnen Handelspartner Ausgeglichenheit herrschen muss. Gerade erst hat er einen Streit mit Kanada angezettelt, der beispiellos für die vergangenen zwei Jahrhunderte ist. Besonders frappierend ist dabei, dass er nicht etwa die jungen Industrien schützen will, sondern die kostspieligen und oftmals überholten.

Der amerikanische Populismus wurzelt in einer Stimmung, die das 19. Jahrhundert prägte

Dann ist da noch das Thema Populismus, diese Welle aus Unzufriedenheit mit etablierten Parteien, Eliten und Intellektuellen, welche die langfristigen politischen Leitlinien in vielen Landstrichen zerstört hat. Allerdings bezeichnet der Begriff "Populismus" verschiedene Phänomene. Hans-Jürgen Puhle, der sich auf frühe Soziologen wie Gino Germani bezieht, unter-scheidet dabei zwei Phänomene. Auf der einen Seite die "linken" populistischen Bewegungen, die als quasi-revolutionäre politische Projekte in Entwicklungsländern Gestalt annehmen, die die agrarische Bevölkerung vereinen und kollektivistische Heilmittel fordern, wie beispielsweise in Lateinamerika.

Auf der anderen Seite die populistischen Proteste in den Industrienationen, deren Vorkämpfer sich früher durch die Industrialisierung verdrängt fühlten und heute ausgegrenzt durch die Globalisierung und die Digitalwirtschaft. Diese Form des Populismus bezeichnet solche urbanen Protestbewegungen, wie die von Karl Lueger in Wien zur 20. Jahrhundert-wende und vermutlich auch den illiberalen Populismus, den man heute in Ungarn und Polen findet. Historiker haben lange debattiert, ob die amerikanischen Populisten - die Protestbewegung des amerikanischen Westens in den 1890er-Jahren, die eine politische Partei hervorbrachte - eher dem ersten oder zweiten Typ angehörte.

Auch Franklin D. Roosevelt "torpedierte" 1934 die Weltwirtschaftskonferenz in London

Daneben gibt es noch einen anderen Ursprung der Bewegung, um deren Mobilisierung Trump sich bemüht: eine spezielle Kampfeslust und latente Gewalt, die sich auf die Tradition des Wilden Westens stützen. Die Grenzregionen im Norden und Süden der USA - in denen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts imperiale Rivalen wie die Briten, Franzosen und Spanier aufeinanderstießen und sich später weiße Siedler und indianische Stämmen bekämpften - haben stürmische und oftmals gewalttätige politische Führer hervorgebracht. Vor allem hochrangige Militärs haben die populistischen Kräfte der Grenzgebiete gegen die liberalen, wirtschaftlichen und finanziellen Eliten ausgespielt. Am Rande von nord- und südamerikanischen Siedlungsgebieten haben Heerführer wie Andrew Jackson in den ersten 75 Jahren der USA populistische Stimmungen angeheizt, genauso wie demagogische, oftmals rassistische Führerfiguren bis weit ins 20. Jahrhundert, die allerdings für ländliche Gemeinden standen, die weit weg von den Zentren der Macht in Armut stagnierten.

Es dauerte lange, bis sich die jungen USA die Arroganz der Macht leisteten

Den vielen Diagnosen zum psychologischen Profil von Donald Trump ist nichts hinzuzufügen. Was auch immer in seinen emotionalen Tiefen liegt, die Konsequenzen sind destruktiv. Man musste lernen, dass man keine einzige seiner Verlautbarungen als ehrliche politische Absicht annehmen kann. Trump hat sich mit Kim Jong-un monatelang einen verbalen Schlagabtausch geliefert und dann vor ein paar Wochen einen spektakulären Gipfel mit ihm abgehalten. Erst lobpreist er Justin Trudeau, dann verspottet er ihn als schwachen, betrügerischen Regierungschef. Jeder, der mit Trump zu tun hat, inklusive der amerikanischen Öffentlichkeit und der ausländischen Staatsoberhäupter, muss mit dieser Unberechenbarkeit kalkulieren. Das ist für die Ausübung seiner Macht und seinen Führungsstil zentral geworden.

Dennoch, Unbeständigkeit und sogar verbale Schmähung haben in der amerikanischen Geschichte schon oft eine Rolle gespielt. Franklin D. Roosevelt "torpedierte" die Weltwirtschaftskonferenz 1934 in London, als er beschloss, dass ihn die bei seinen New Deal-Finanzreformen behindern würde. Aber er ist dabei ohne persönliche Angriffe vorgegangen. Und nach zwei Jahren hat Washington wieder mit der Bank of England und dem britischen Finanzministerium kooperiert. Frühere amerikanische Präsidenten führten sich gegenüber europäischen Politikern oft polternd und wichtigtuerisch auf, waren sich dabei aber immer bewusst, dass die große Distanz ihr Land vor Vergeltungsmaßnahmen schützen würde. Und es gab immer eine heimische Wählerschaft, die solche Unverschämtheiten schätzten, die sie berechtigt fanden. Vor allem Großbritannien war eine bevorzugte Zielscheibe, weil es für die Amerikaner (oft vertretbar) so aussah, als genieße London die Arroganz seiner Macht.

Bevor die USA sich selbst solche Arroganz leisteten, erlaubten sie sich die Flegelei der Unverwundbarkeit. Die USA genossen im 19. Jahrhundert keinen Großmachtstatus, sie hatten lächerliche Streitkräfte, die überwiegend für die Kontrolle der Grenze zu den Indianern eingesetzt wurden. Aber sie hatten den Schutzraum der Meere und Überlegenheit in der nördlichen Hemisphäre. Man konnte es sich leisten, eine lange Nase zu machen, weil man darauf wetten konnte, dass Briten und Mexikaner vor einem Konflikt zurückscheuen würden.

Die Trump-Regierung baut auf genau diese beiden Impulse - die Arroganz des modernen Waffenarsenals einer Supermacht sowie die Unverschämtheit der frühen Republik. Wie die Verbündeten darauf reagieren sollen, ist eine schwierige Angelegenheit: Es ist eine irritierende Problematik - entweder man versucht, Trump zu besänftigen, weil man vermutet, dass er seine Politik noch einmal ändert, oder man übt Vergeltung in der Hoffnung, dass die amerikanische Privatwirtschaft einen Wechsel in Washington erzwingt. Wir befinden uns in einer gefährlichen Situation und das nicht, weil Trump Europa demütigen und die USA isolieren will, sondern weil er (und die USA) einen Kurs eingeschlagen haben, der äußerst unberechenbar ist. Trump kann seine Impulse nicht kontrollieren - seine lauernde Wut, sein Bedürfnis, als größter Geschäftemacher und populärster aller Präsidenten angesehen zu werden.

Die Fusion aus Liberalisierung und Demokratie wird mit jeder Wahl infrage gestellt

Trotz der Präzedenzen der amerikanischen Geschichte versteht man Trump vermutlich am besten, wenn man ihn gemeinsam mit den anderen willensstarken Regierungschefs seiner Epoche betrachtet. Mit Recep Tayyip Erdoğan, Narendra Modi, dem philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte und vielleicht mit Wladimir Putin. Mit Männern, die den Lauf der Geschichte kontrollieren wollen. Das ist keine Geschichte, die sich aus der Entwicklung von Institutionen entwickelt, sondern der Ausdruck von Macht und Willensstärke.

Diese Staatsoberhäupter helfen sich gegenseitig, das jeweilige Ansehen im eigenen Land zu stärken, indem sie mit ihrem Pendant zum Machtkampf antreten, um sich dann kurz darauf überschwänglich zu verbrüdern: "Dealing" nennt Trump dieses Verhandeln mit stürmischen und impulsiven Regierungschefs, während sie "schwächere" Männer wie Justin Trudeau oder Emmanuel Macron hinter sich lassen.

All diese Staatschefs sind antiweberianisch, weil sie die bürokratischen Routinen brechen, die sie so verachten. Man verwendet für sie nur zögerlich den Weber'schen Ausdruck "charismatisch", weil sie Macht durch etwas ausüben, was für liberale Intellektuelle mehr Impulsivität, Schikane und Demütigung von Kontrahenten ist als eine wahrhaft prophetische Vision. Es ist ernüchternd, dass weder die Bürokratie noch die kapitalistische Rationalität, die parteipolitische Rivalität oder irgendeine unserer ehrwürdigen soziologischen Kategorien für diesen Moment eine Formel dieser Machtausübung gefunden haben. Diese Staatschefs sind an die Macht gekommen, weil sie so sind, wie sie sind - weil sie der Wut der Wähler eine Stimme verliehen haben.

Alexis de Tocqueville - der größte Beobachter der amerikanischen Demokratie - hatte gemischte Gefühle für das Land, das er 1835 besuchte. Er erkannte das Potenzial für eine Tyrannei der Mehrheit und für kulturelle Gleichmacherei. Trotzdem glaubte er daran, das die Demokratisierung in der modernen Welt zwangsläufig sei. Er glaubte daran, dass es Schutzmechanismen gebe, welche die Demokratisierung vor dem Zerfall bewahren könnten, obwohl er befürchtete, dass sie seinem eigenen Heimatland fehlten.

Im Unterschied zu vielen anderen seiner Zeit und entgegen seiner eigenen Meinung glaubt er nicht daran, dass die Liberalisierung der Rechte von der Demokratie einer (für Männer) gleichberechtigten Partizipation an der Politik zu trennen sei. Doch diese Fusion von Liberalisierung und Demokratie, welche - so glaubte er - die USA umsetzen würden, und die seit 1945 und seit 1989 so sicher institutionalisiert zu sein schien, wird nun bei jeder Wahl infrage gestellt. Letztlich ist zu befürchten, dass die Herausforderung durch Donald Trump und die anderen Staatsoberhäupter, die das Regieren durch Verhandeln und Kompromiss verachten, eine Herausforderungen für einen jeden von uns ist.

Der Autor ist Historiker an der Harvard University. Der Text basiert auf einer Rede am Heidelberg Center for American Studies. Aus dem Englischen von Kim Maurus.

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