Dokumentarprosa:Homo sovieticus

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Ihre Landsleute, die Weißrussen, sind noch nicht bereit zu kämpfen, findet Swetlana Alexijewitsch. (Foto: Regina Schmeken)

Die weißrussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch beobachtet ihr Land und seine Leute genau.

Von Tim Neshitov

Kürzlich war Swetlana Alexijewitsch in Berlin, und der Taxifahrer, ein Russe, der seit zehn Jahren in Deutschland lebt, sprach sie mit dem Satz an: "Ah, du bist eine von uns, eine Russin." Die Nobelpreisträgerin von 2015 erkannte er nicht, ihm kam einfach ihr Gesicht irgendwie russisch vor. Swetlana Alexijewitsch, eine Weißrussin, ist es natürlich gewohnt, dass Russen auch Weißrussen für Russen halten, darauf kommt es ihr nicht an. Sie ließ sich auf ein Gespräch mit dem Taxifahrer ein, über ein Thema, das diesem auf der Zunge brannte: Wladimir Putin. "Ich habe einen solchen Hass seit langem nicht mehr gespürt", erzählte Alexijewitsch danach Radio Free Europe. "Nicht auf Putin, sondern auf diejenigen, die gegen Putin sind, auf Menschen wie mich."

Mit einem Taxifahrer sprach die Schriftstellerin über Putin und spürte dann großen Hass - auf sich selbst

Der Berliner Taxifahrer gehört der Menschenspezies Homo sovieticus an, die Swetlana Alexijewitsch seit mehr als vier Jahrzehnten in ihren Büchern beschreibt und zu der sie sich qua Herkunft auch selbst zählt. Sie wuchs in einem weißrussischen Dorf im Länderdreieck Weißrussland-Russland-Ukraine auf, arbeitete in Minsk bei der Zeitung Der Leuchtturm des Kommunismus; ihr weißrussischer Vater war Soldat der Roten Armee, ihre Mutter kam aus der Ukraine. "Man erkennt uns auf Anhieb", schreibt sie in "Secondhand-Zeit". "Wir alle, die Menschen aus dem Sozialismus, ähneln einander und sind anders als andere Menschen - wir haben unsere eigenen Begriffe, unsere eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, von Helden und Märtyrern. Wir haben ein besonderes Verhältnis zum Tod."

Eigentlich ist der gewaltige dokumentarische Zyklus über den roten Menschen vorerst abgeschlossen. Alexijewitsch nannte ihn "Stimmen einer Utopie". Dazu gehören Bücher über Frauen und Kinder, die den Zweiten Weltkrieg überlebten ("Der Krieg hat kein weibliches Gesicht", "Die letzten Zeugen"), über den sowjetischen Afghanistan-Krieg ("Zinkjungen"), über die Atomkatastrophe von 1986 ("Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft") und das jüngste Buch "Secondhand-Zeit" über die Phantomschmerzen des Sowjetmenschen nach dem Zerfall des Imperiums.

Die Arbeit an diesen Büchern hat Swetlana Alexijewitsch ausgezehrt, teilweise lesen sich diese Texte wie Selbsttherapie. Eine Schwester Alexijewitschs starb an der atomaren Verseuchung nach Tschernobyl, ihre Mutter erblindete. Der Nobelpreis für Literatur war nicht nur eine Ehrung des Lebenswerks, er markierte auch einen Schlussstrich. Viele Literaturfans halten den Preis - oh Wunder - für umstritten, ehrte er doch diesmal die Gattung der Dokumentarprosa. Was aber Swetlana Alexijewitsch seitdem beschäftigt, ist die Tatsache, dass das Nachdenken über den roten Menschen einfach nicht aufhört, es ist heute nicht weniger aktuell als nach Stalins Tod oder in der Zeit des Mauerfalls. Dazu wird sie immer wieder befragt: Was treibt Russland in der Ukraine? Was ist in Syrien los? Hat Putin auch das Baltikum im Visier? "Dieses Russland holt dich überall ein", sagt Alexijewitsch.

Sie hält nun Gastvorlesungen an den besten Hochschulen der Welt, aber zu Hause ist sie in Weißrussland. Von dem Nobelpreisgeld hat sie sich eine Wohnung in Minsk und eine Datscha im Skigebiet Silitschi gekauft. Ihr Verhältnis zu Weißrussland ist nicht einfach gewesen. Zensoren sahen in ihr eine Nestbeschmutzerin, ihre Bücher wurden lange nicht verlegt. Der postsowjetische Diktator Alexander Lukaschenko ließ ihr Telefon abhören. Die Schriftstellerin lebte in Frankreich, Schweden, Italien, Deutschland. Der Nobelpreis schützt sie nun vor Schikanen zu Hause, obwohl sie kein Blatt vor den Mund nimmt. Ihre Prognosen sind düster: "Ich denke, unser Volk ist noch nicht bereit zu kämpfen. Es befindet sich in einem materialistischen Zwischenstadium - "der tastende Mensch" -, wir probieren neue Sachen, neue Klamotten, hinzu kommt unsere dörfliche Mentalität. Die Opposition ist sehr schwach, all die starken Persönlichkeiten sind zerstört worden, andere sind von alleine zerbrochen."

Swetlana Alexijewitsch und Herta Müller, Sprache und Poesie in Diktaturen, 11.11., 19 Uhr, LMU.

© SZ vom 03.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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