Dokumentarfilm:Schönes Monster

Lesezeit: 2 min

Die Schönheit des Rands: "Sacro GRA" von Gianfranco Rosi. (Foto: Kairos)

Immer der Autobahn nach: Gianfranco Rosis "Sacro GRA" studiert die Nach-Berlusconi-Gesellschaft.

Von Martina Knoben

Was macht der Mann mit dem Bohrer da nur? Bohrt Palme um Palme an und steckt eine Art Supermikrofon ins Innere, um in die Pflanzen hineinzulauschen. Sehr rätselhaft ist das Ganze, bis sehr viel später zu erfahren ist, dass er Schädlingen auf der Spur ist. Widerliche Schmatzgeräusche sind zu hören und Geschnatter - der "Klang der Orgie", wie der Biologe Francesco sagt. Er führt einen einsamen Kreuzzug gegen die Käfer und ihre Maden, die die Palmen von innen her auffressen: Schließlich hätte die Palme die Form der menschlichen Seele.

Wie sich die Schädlinge durch das lebende Fleisch der Pflanze wühlen und diese aushöhlen, ist das zentrale Bild dieses Films, der die italienische Gesellschaft nach Berlusconi studiert. Dafür folgt Gianfranco Rosi einem Autobahnring: Die "Grande Raccordo Anulare", kurz GRA, umschließt Rom auf 70 Kilometern Länge "wie einer der Ringe des Saturn". Sie ist eine der meistbefahrenen Straßen Italiens, ein schier unendlicher Strom von Fahrzeugen fließt darüber. Sie ist weit entfernt vom Rom der antiken Stätten, Paläste und Gärten. Hier grenzt die Stadt ans Land, was dem Film bizarr-schöne Bilder beschert, etwa das einer Schafherde, die direkt neben dem Autobahnmoloch grast. Auch die Palmen, die Francesco untersucht, wachsen von Autoabgasen umhüllt eher kümmerlich bräunlich am Rande der GRA.

Gianfranco Rosi hat drei Jahre an seinem Dokumentarfilm gearbeitet, in einem Minivan fuhr er über die römische Ringautobahn und sammelte: Bilder, Geschichten, Biografisches vom Rand. Manches hat nur den Reiz des Anekdotisch-Skurrilen; anderes ist bizarr, wirkt aber exemplarisch, vor allem, wenn man den Film als Studie der Nach-Berlusconi-Gesellschaft sieht. Zwar ist das Bild der maßlos gierigen Maden analytisch eher unbefriedigend - dafür ist es einprägsam und originell. Und sieht der Prinz, den Rosi am Rand der Autobahn in einem unfassbar geschmacklosen Palast mit pseudoantiken Statuen und Sesseln mit Leopardenmuster entdeckt, sieht dieser Adelige mit der blonden Ehefrau dem Cavaliere nicht ein bisschen ähnlich? Rosi drängt solche Vergleiche keineswegs auf, aber es ist nicht zu übersehnen, wo seine Sympathien liegen. Da ist der Fischer mit seiner ukrainischen Frau, der unter einer Autobahnbrücke am Tiber seine Hütte hat und sich um die Zukunft der einheimischen Aale sorgt. Es gibt zwei ältere Prostituierte, die an der Autobahn auf Kundschaft warten oder eine Plattenbausiedlung, die Rosi mit dem Blick eines Wissenschaftlers erkundet: Mit starrer Kamera blickt er durch die Fenster in diverse Wohnungen und hört den Bewohnern zu, die sich wiederum über die Bewohner anderer Wohnungen unterhalten, die uns aber verborgen bleiben. Obwohl der Film solche Eindrücke scheinbar nur sammelt, gewinnt er eine unerwartete Dichte und poetische Qualität: weil seine Bilder atmosphärisch stark sind und Rosi sie mit gutem Rhythmus montiert. Dafür bekam "Sacro GRA" 2013 in Venedig den Goldenen Löwen, als erster Dokumentarfilm überhaupt.

Eigentlicher Hauptdarsteller ist natürlich die Straße selbst, die in Rosis Bildern ein Eigenleben gewinnt, immer wieder überraschend anders aussieht. Vor allem nachts strahlt sie eine Schönheit aus, die seltsam unpassend wirkt für ein Autobahnmonster - aber dieser Widerspruch passt, trifft auch auf viele von Rosis Protagonisten zu und am Ende vielleicht auf ganz Italien. Auf der Straße unterwegs ist ein Rettungssanitäter, der immer neue Unfallopfer versorgt. So fängt der Film an, das ist der Ausgangspunkt: das Sirenengeheul des Notarztwagens. Nun muss dem Patienten geholfen werden.

S acro GRA - Das andere Rom , Italien 2013 - Regie, Kamera, Ton: Gianfranco Rosi. Buch: G. Rosi, Nicolò Bassetti. Schnitt: Jacopo Quadri. Kairos, 93 Min.

© SZ vom 26.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: