Dokumentarfilm:Im Widerstand

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Die in der Türkei verbotene Dokumentation "Bakur" zeigt den Alltag in einem Ausbildunglager für die Untergrundkämpfer der PPK. (Foto: Surela Film)

Als "Bakur", eine Doku über die Untergrundkämpfer der PKK, nicht auf dem Istanbul Filmfest laufen darf, rufen türkische Filmemacher zum Boykott. Warum wurde der Film verboten?

Von Amin Farzanefar

Der Skandal beginnt am achten Tag des Festivals, zunächst ganz unauffällig. Im gemütlichen Pressezentrum am Prachtboulevard Istiklal Caddesi hängt ein Zettel aus: die Dokumentation "Bakur", die einen Einblick in geheime Trainingslager der kurdischen Untergrundorganisation PKK verspricht, könne kurzfristig leider nicht gezeigt werden. Die Erklärung ist lapidar- es fehle einfach nur eine Lizenz für die Vorführung.

Wenig später allerdings kommt die Nachricht, alle türkischen Dokumentarfilmer hätten ihre Werke aus Protest gegen die Zensur von "Bakur" zurückgezogen. Dann folgen die türkischen Spielfilmregisseure, schließlich legen auch sämtliche Jurys ihre Arbeit nieder. Damit ist das 34. Istanbul Filmfestival weitgehend lahmgelegt - nur das internationale Programm kann weiterlaufen. Stattdessen beginnen Meetings, Protestkundgebungen, viele Filmemacher bieten an, für kritische Diskussionen und Debatten im Kinosaal zur Verfügung zu stehen - die türkische Filmszene zeigt sich vereint und kämpferisch wie schon lange nicht mehr.

Was war geschehen? Cem Erkul, der Ministerialbeamte für Filmfragen im Ministerium für Kultur und Tourismus, hatte offenbar eine striktes Verbot der "Bakur"-Vorführung durchgesetzt, ohne den Film überhaupt gesehen zu haben - vorgeblich fehlte ein Dokument, das aber seit Jahren in der Praxis nicht mehr einfordert wird. So waren in den Tagen zuvor bereits sechs Filme, die das Zertifikat nicht beantragt hatten, unbeanstandet gelaufen

Diese nervöse politische Überreaktion ist auch im Kontext neuerlicher Gefechte mit der PKK zu sehen. Dazu kommt die zunehmende Chance der Kurdenpartei HDP, die Zehn-Prozent-Hürde zu nehmen, ins Parlament einzuziehen und die Pläne von Staatspräsident Erdoğan zu gefährden. Der möchte eigentlich seinem Amt nach einem überwältigenden Wahlsieg im kommenden Juli durch eine Verfassungsänderung mehr Macht zuschaufeln. Solche und andere Spekulationen schwirren durchs Festival und gipfeln in dem Aufruf der Filmemacher, den fraglichen Genehmigungs-Paragrafen ein für allemal zu streichen.

Im übervollen "Atlas"-Kino, in dem sie dieser Forderung vor großem Publikum Nachdruck verleihen, erreicht den Reporter dann unter der Hand ein Angebot, das er nicht ablehnen kann: "Bakur", der Auslöser der ganzen Aufregung, würde am kommenden Morgen gezeigt, in einem Kinosaal ganz außerhalb des Festivals, in einem anderen Teil der Stadt. Zur fraglichen Stunde trifft man sich in einem kleinen Vorführraum wieder, zusammen mit einer Handvoll nationaler und internationaler Berichterstatter, alle voll gespannter Erwartung.

Eines wird schnell klar - die Trainingslager der Kurden liegen in atemberaubender Landschaft

"Bakur" heißt Norden und ist ein Synonym für den kurdischen Teil der Türkei. Diesen Norden zeigt der Film als eine atemberaubende, von Wäldern bedeckte Berglandschaft, aus der vereinzelt riesige Felsbrocken wie gewaltige Faustkeile aufragen. Dort hatten der Regisseur Cayan Demirel und der Journalist Ertugrul Mavioglu Zugang zu drei Trainingslagern der PKK bekommen. Die Atmosphäre erinnert allerdings eher an ein Ferienlager, die Menschlein in dieser gewaltigen Natur wirken wenig martialisch: Man sieht also junge Kämpfer beim Rafting und Schwimmen und beim Klettern in kilometerlangen Höhlensystemen, wo sie sieben kalte Monate verbringen. Und man bekommt seltene Einblicke: Spione und andere Delinquenten sitzen zum "Nachdenken" in steinernen Gefängnissen ein. Es gibt einen Friedhof, wo einst namenlos verscharrte Kameraden erneut beigesetzt werden, wenn möglich mit Grabstein. Kommandeure diskutieren über den Wandel der "Corporate Identity" der PKK, hin zu einer ökologisch bewussten Organisation, die der Gewalt abschwören möchte, sich vom kurdischen Nationalstaat verabschiedet hat und eine lose Föderation über die Staatengrenzen hinweg anstrebt.

Kämpferinnen in Uniform beschreiben die PKK als Emanzipationsbewegung, zeichnen die Abkehr von der männerdominierten Befehlsstruktur nach: "Unterdrückung beginnt bei den Frauen" - der Geschlechterkampf ist grundlegender als alle nationalen oder kulturellen Konflikte. Leitmotivisch montiert zwischen diese unkommentierten Statements und Naturaufnahmen sind Tänze und Spottgesänge, in denen sich die Kämpfer lustig machen über vergangene Zeiten, als man noch blind dem Führer Abdullah Öcalan - "Apo" - nacheiferte. Nun gut, auch das wirkt etwas verordnet. Dann bereiten die Guerilleros einen Familienbesuch vor, und ein Rekrut sagt zum anderen: "Deine Mutter denkt, du bist im Krieg, und schau: du bist in der Küche".

Nach der Vorführung herrscht Ratlosigkeit im Kreis der ausländischen Betrachter. Zentrale Protagonisten werden kaum eingeführt, über Entstehungszeit und Hintergründe gibt es im Film selbst wenig bis gar keine Informationen. Tatsächlich konnte das Team 2013 über mehrere Wochen hin in drei Camps nahe der Städte Dersim, Amed und Botan drehen, die infolge des von Öcalan mitinitiierten Aussöhnungsprozesses geräumt werden sollten. Zuwenig hinterfragt der Film: Wer finanziert die PKK, woher kommen die Waffen? Und was passiert eigentlich zwischen Männern und Frauen? Früher war jede Romanze bei Todesstrafe verboten, was mehrere Pärchen zur dramatischen Flucht veranlasste. Und wie positioniert sich die Guerilla zu früheren Terroraktionen? Der Film wirkt handwerklich uneben, sympathisierend und bisweilen naiv, aber er ist keineswegs der Propagandafilm, als den ihn die türkische Politik und die türkische Presse bezeichnet. Nur zeigt er PKK-Kämpfer erstmals nicht als Bestien, wie es das staatliche türkische Fernsehen jahrzehntelang tat, sondern als Menschen, deren Handlungen und Gedanken der aufgeklärte Zuschauer hinterfragen oder ablehnen darf.

Ein vom Sujet und Ansatz her also spannender, visuell ansprechender, aber im Detail problematischer Film, der sicher nicht die Zustimmung jedes Regiekollegen finden wird. Die Verbotsaktion des Ministeriums wirkt auch deshalb so bizarr, weil sie anachronistisch daherkommt. Das Istanbuler Festival programmiert schon seit Jahren recht unaufgeregt hochkritische Filme, die früher nicht möglich gewesen wären. Fehlende Geschichtsaufarbeitung, Diskriminierung von Minderheiten, Umweltzerstörung, städtische Fehlplanungen - viele der gezeigten Missstände sind auch Folgen der Ära Erdoğan.

Zensur spielte dabei bisher kaum eine Rolle, die von regen Diskussionen begleiteten Vorführungen schienen den Offiziellen wohl meist zu unbedeutend zu sein - in einem Land, das kaum über Programmkinos verfügt und auf dessen Multiplex-Leinwänden regulär sowieso fast nur Mainstream läuft. So sollte in diesem Jahr auch die Reihe "100 Years of Pain" im Festival stattfinden, mit Filmen über den Völkermord an den Armeniern vor einhundert Jahren. Die liefen bereits in früheren Jahren ohne größeres Aufheben.

Die Filmszene erlebt ein Gemeinschaftsgefühl, das an die Gezi-Proteste von 2013 erinnert

In dieser verworrenen Lage ist die breite Solidaritätswelle, die jetzt quer durch die Filmszene geht, außergewöhnlich. In der Tat geht es weniger um den Inhalt von "Bakur" als um das Recht auf Meinungsäußerung. Dieses Gemeinschaftsgefühl, heißt es, sei erst durch die Proteste von 2013 möglich geworden, als sich im besetzten Gezipark erstmals die unterschiedlichsten Lager ohne ideologische Barrieren austauschten - nur oberflächlich ging es damals um den Erhalt einer kleinen Grünanlage . . .

Jetzt ist manch einem Filmschaffenden der Boykott nicht radikal genug. Man hätte das Festival komplett absagen müssen, heißt es - oder, umgekehrt, "Bakur" überall ohne Genehmigung zeigen sollen, heißt es. Am letzten Tag des Festivals gibt es dann aber doch noch die fällige große Demo - und auf dem Istiklal-Boulevard ist tatsächlich wieder ein wenig von der engagierten und gleichzeitig verspielten Gezi-Atmosphäre zu spüren. Auf Pappschildern stehen die Titel zensierter kurdischer Filme - von Yilmaz Güneys "Yol", der 1982 wegen des Zwischentitels "Kürdistan" verboten wurde, bis hin zu Handan Ipekcis "Büyük Adam, Kücük Ask", in dem sich ein pensionierter kemalistischer Richter eines kleinen kurdischen Waisenmädchens annimmt, die partout kein Türkisch sprechen möchte.

Der Geist von Gezi wurde auch nach der Demo beschworen: 2013, nach der gewaltsamen Räumung des Parks, hatten die Protestler noch monatelang in anderen Grünanlagen im Stadtraum Diskussionsforen abgehalten. Ein solches "Forum" zum Thema Zensur fand nun im Abbasaga-Park statt, zuvor lief noch ein Festivalfilm, außerhalb des Festivals. "We hit the Road" von Deniz Yesil dokumentierte einen lange vergessenen und plötzlich wieder hochaktuellen Protest des Jahres 1977: Filmarbeiter ohne Werkvertrag hatten sich zusammen mit den unter einer grotesk-paranoiden Zensur leidenden Regisseuren, Produzenten und Schauspielern auf einen langen und oft lustigen Marsch nach Ankara begeben. Man legte seine Forderungen vor, erreichte die Gründung von Gewerkschaften und den Abschluss von Werkverträgen. Dann beendete der Putsch von 1980 diese liberale Phase, und McCarthy-ähnliche Tribunale verhörten die Aktivisten.

Die letzten Neuigkeiten handeln dann davon, dass auch das renommierte Ankara-Filmfestival den nationalen Wettbewerb abgesagt hat, und dass die Jury des Istanbuler "Flying Broom"-Frauen-Filmfestivals nicht antreten wird. So dürfte es weitergehen; die aktuelle Hauptforderung ist die Abschaffung des leidigen Paragrafen - oder zumindest eine klare Regelung, die willkürliche Zensurakte verhindert und einen Festivalbetrieb gewährleistet. Bis dahin gilt: Wer neue türkische Filme sehen will, muss warten.

© SZ vom 30.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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