Dokumentarfilm "Die Wirklichkeit kommt":Sehen, was man nicht sehen kann

Die Wirklichkeit kommt Dokumentarfilm Niels Bolbrinker

Bewegungsanalysen können vor Verbrechen schützen. Gleichzeitig ist diese Form der Überwachung mit permanenter Kontrolle verbunden.

(Foto: Realfiction)

Wo liegt die Grenze zwischen systematischer Überwachung und Paranoia? In "Die Wirklichkeit kommt" befragt Regisseur Niels Bolbrinker Psychotiker zum heutigen Kontrollwahn, der nicht erst seit Edward Snowdon existiert.

Von Martina Knoben

Der wahre Realist ist manchmal der Spinner. Der Paranoiker, der sich überwacht fühlt und vor der Manipulation durch unsichtbare Mächte warnt. In den Sechzigerjahren phantasierte etwa der Berliner "Sendermann" von Abhörgeräten an den Körpern und in den Wohnungen. Heute darf der Verrückte (auch) als Visionär gelten, ist der "Sender am Körper" - das Handy - ebenso Realität wie die Abhörgeräte/Computer in den Wohnzimmern.

Als Edward Snowden vor knapp einem Jahr die umfassende Überwachung des Internets durch den amerikanischen Geheimdienst NSA publik machte, übertrafen seine Enthüllungen viele Verschwörungstheorien. Deshalb ist Niels Bolbrinkers Einfall durchaus überzeugend, Psychotiker als Zeugen zu befragen, um dem Überwachungs- und Kontrollwahn unserer sicherheitsfixierten Gegenwart auf die Spur zu kommen.

Angst vor Funkwellen und Radarstrahlen

Sie selbst nennen sich "mind control victims" und haben vor Funkwellen Angst oder glauben von unsichtbaren Kräften gefoltert zu werden. Harald zum Beispiel, der in einem Bauwagen lebt, ist überzeugt, dass jemand seinen Körper manipuliert. Eine größere Macht bestrafe ihn mit Schlaflosigkeit oder körperlichen Schmerzen, wenn er etwas ihr nicht Genehmes tue, glaubt er.

Ein Russlanddeutscher, der in der Sowjetunion vom Geheimdienst gezwungen werden sollte, seine Kollegen zu bespitzeln, hört nun Stimmen. Oder der Mann aus Thüringen, der sich von Radarstrahlen verfolgt fühlt und deshalb in seiner Wohnung Schutzhöhlen aus Tüchern errichtet hat oder sich eine Art Imkerhaube über den Kopf stülpt. Klar, dass diese Menschen krank sind, Fälle für die Psychiatrie. Oder vielleicht doch nicht?

Bolbrinker nährt raunend den kollektiven Verfolgungswahn, der uns spätestens seit Snowdens Enthüllungen erfasst hat. Er gleicht den Wahnsinn aber auch mit der Wirklichkeit ab, besucht eine Waffenmesse und diverse Forschungsabteilungen und stellt fest, dass einige der Phantasien Realität sind, andere zumindest Wirklichkeit werden könnten. Vorgeführt werden ihm Drohnen, die einem Kolibri gleichen, oder eine Mikrowellenkanone, die über einige Entfernung hinweg und durch Wände hindurch Teewasser zum Kochen bringen könnte - oder einen Menschen foltern, ohne Spuren zu hinterlassen.

Verwurzelt im Kalten Krieg

Verwurzelt ist der Film in der Welt des Kalten Krieges, ihrer Ängste und Hysterie. Der Regisseur, der vor Jahrzehnten in Westberlin studierte, der auch den "Sendermann" noch erlebt hat, zeigt eine Spukwelt, wenn er in einen Abhör-Bunker der DDR steigt oder auf den Berliner Teufelsberg, wo noch die Überreste des ehemaligen amerikanischen Horchpostens stehen, die heute wie eine Tempelruine wirken. Bolbrinker untermalt die Bilder mit musikalischem Gespenster-Wabern und einer mahnenden Kommentarstimme.

Das wirkt zuerst aufgesetzt und spekulativ, passt aber, weil auch die Gedankenwelt der Paranoiker, die er als Zeugen befragt, aus dieser Zeit stammt. Regimes, die ihrer Bevölkerung zutiefst misstrauten - wie die DDR - haben diesen Menschen Traumata zugefügt, die wahrscheinlich die Ursachen sind für ihren Verfolgungswahn. Und es sind auch die Mittel des 20. Jahrhunderts, mit denen sie diese Ängste in Schach halten: Messgeräte für elektromagnetische Strahlen, minutiös gezeichnete Kurven und Tabellen - (Pseudo-)Wissenschaft, die beweisen soll, was nicht zu beweisen ist.

Zwischen Forschung und Spukwelt

Schließlich kommen sich moderne Forschung und Spukwelt erschreckend nahe, als ein Wissenschaftler von den Möglichkeiten der Geräusch- oder Bewegungserkennung schwärmt. Wenn man einen Laserstrahl auf eine Geräuschquelle richtet, lässt sich "hören", was selbst empfindlichste Mikrofone nicht wahrnehmen können: ob ein angeschossener Terrorist noch lebt etwa. "Sehen, was man eigentlich nicht sehen kann; hören, was man eigentlich nicht hören kann - das ist doch schön!", begeistert sich der Wissenschaftler.

Da trifft das magische Denken der Paranoiker, die ihre Tücher und Radarmessgeräte als Abwehrzauber gebrauchen, auf ein verblüffend ähnliches Denken. Es sei eine Art "religiöser Glaube - alles aufzeichnen, alles sehen, alles hören", kommentiert Constanze Kurz vom Chaos Computer Club.

Der Fall Snowden platzte mitten in Bolbrinkers Dreharbeiten hinein. Den großen Fragen, die die Enthüllungen aufwerfen, war der Regisseur dann nicht ganz gewachsen, auch die Verknüpfung von Wahn und Wissenschaft ist am Ende zu ungefähr. Bolbrinkers Haltung aber ist nicht die schlechteste: Grundsätzlich alles für möglich zu halten und zu fragen, wer von welcher Technik profitiert.

Die Wirklichkeit kommt, D 2013 - Regie, Buch: Niels Bolbrinker. Dramaturgie: Thomas Tielsch. Kamera, Schnitt: N. Bolbrinker. Musik: Paul Lemp. Sprecherin: Patrycja Ziolkowska. Verleih: Realfiction, 82 Minuten.

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