14. Station in Freetown, Sierra Leone:Oh, Freetown!

Toilettenartikel-Verkäuferin in Freetown, Sierra Leone

Eine Frau, die Toilettenartikel verkaufte, riss sich die Bluse vom Leib, schaute ihn herausfordernd an und befahl ihm, sie zu fotografieren. "Snap me, Wetman!" rief sie ihm, keinen Widerspruch duldend, zu.

(Foto: Michael Glawogger)

Auf seiner Weltreise macht Dokumentarfilmer Michael Glawogger in Sierra Leones Hauptstadt Freetown Station. Dort geriet er zugleich in einen Stau und eine Toilettenartikel-Verkäuferin posierte für ein Foto. Wenn das kein Grund ist, diese Stadt sofort zu lieben. Eine fiktive Geschichte, die auf ganz realen Beobachtungen beruht.

Von Michael Glawogger

Der Stau rückte zwanzig Meter weiter, und er sah ein paar verrostete Schiffe am Horizont und einen nicht enden wollenden Schwarm Flughunde am Himmel. Er war noch gar nicht angekommen und schon liebte er diese Stadt.

Er war im Auto eingeschlafen und erwachte mitten in einem Stau. Er wusste nicht, wie lange sie schon standen, aber es fühle sich lange an - und es wirkte auch nicht, als ob sich das Auto je wieder in Bewegung setzen würde.

Der Fahrer hatte resigniert den Motor abgestellt und ließ sein linkes Bein aus dem Seitenfenster hängen. Rundherum hupten alle um ihr Leben. Ein Straßenverkäufer ging die Kolonne entlang und pries Waren aller Art an. Er hatte sich zu diesem Zweck einen zusammengeklebten, auf höchster Lautstärke krächzenden Lautsprecher unter den rechten Arm geklemmt, um die Hände für seine Artikel frei zu haben.

Die halbfertige Moschee, die über ihm zu thronen schien, übertönte seine Rufe mit einem noch viel lauteren, viel kaputteren Lautsprecher, während ein kleiner Disput zwischen zwei anderen Händlern direkt vor dem Autofenster mit einer herzlichen Versöhnung endete.

Rechter Hand brannten die Müllplätze, und aus einem zweistöckigen Wellblechhaus im Stil eines englischen Landsitzes schrie ein Priester seine Warnungen vor der Macht Satans und der Kraft des Herrn in den Abend hinaus. Chorisch wurden seine Rufe mit "Amen" beantwortet.

Der Stau rückte zwanzig Meter weiter, und er sah ein paar verrostete Schiffe am Horizont und einen nicht enden wollenden Schwarm Flughunde am Himmel. Er war noch gar nicht angekommen und schon liebte er diese Stadt.

Nach einer halben Stunde stieg er aus, um zu Fuß das Ende des Staus zu erkunden. Er wurde begrüßt, als habe er bisher hier gefehlt. Er wurde von Kindern verfolgt, die ihn als Weißen Mann, als "Poto" entlarvten, und er wurde aufgefordert, der Stadt einen Bus zu schenken. Es fehle hier nämlich an innerstädtischen Bussen, und man müsse sich stundenlang anstellen, um in die Vororte Waterloo oder Hastings zu gelangen.

Genug gesehen

Eine Frau, die Toilettenartikel verkaufte, riss sich die Bluse vom Leib, schaute ihn herausfordernd an und befahl ihm, sie zu fotografieren. "Snap me, Wetman!" rief sie ihm, keinen Widerspruch duldend, zu. Er war sich gar nicht klar gewesen, seinen Fotoapparat aus dem Auto mitgenommen zu haben, hob ihn aber jetzt folgsam hoch, um ihrer Aufforderung nachzukommen.

Zwei andere Verkäuferinnen liefen schreiend davon, während wieder andere stehen blieben, um ungläubig in seine Richtung zu schauen. Die Frau schälte sich noch aus einem dünnen Unterhemd und posierte in einem weißen BH vor ihm, bis sie fand, er habe genug gesehen und fotografiert. Oh, Freetown.

Er ging und ging, aber der Stau endete nicht. Hie und da rückten die hupenden Autos ein Stück vor wie auf einem kaputten Förderband. Zwei Jugendliche holten ihn ein und flankierten ihn wie eine Eskorte. Er verstand ihre Begrüßungsworte nicht gleich, da das Englisch in dieser Stadt voller eleganter Verkürzungen und poetischer Schwingungen ist und in einem völlig anderen Rhythmus gesprochen wird.

Kleine Höhenflüge der Sprache

Sie schlugen also erst einmal ein, schnippten mit den Fingern und berührten einander mit den Knöcheln der geballten rechten Faust. "How da body?" - "Da body is clothed!" wurde ihm beigebracht. Er kannte ja schon viele Begrüßungsformeln, aber diese war ihm neu. Sie eröffnet sprachliche und emotionale Welten. "Da body fine!", "Da body sick", "Da body mad", "Da body hungry", "Da body sad", um nur die offensichtlichsten zu nennen.

Und weiß man nicht so recht, wie es denn heute um den eigenen Körper beschaffen sei, ist "Da body clothed" immer ein guter Weg, um genau das auszudrücken. In der österreichischen Sprache, deren Dialekte ja auch kleine Höhenflüge zulassen, hieße das dann wohl "Wie hammas?" - "Anzogen hammas". Anzogen hammas in Freetown.

Mit einem Mal sah er den Grund des Staus. Es war ein in einen Abhang gebauter Kreisverkehr. Ein völlig überfüllter Minibus war darin abgestorben und kam nicht mehr auf Touren. Man musste ihn schieben, was aber nur bergab und im Rückwärtsgang möglich gewesen wäre, aber die nachkommenden Autos drängten nach.

Um jeden Zentimeter wurde gekämpft, sodass an ein Weiterkommen nicht mehr zu denken war. Zwei Taxis waren schon ineinander verkeilt, und einige Fahrer standen zwischen den Autos und schrien einander an. Zwei hatten den Streit schon hinter sich, saßen friedlich auf ihren Kühlerhauben und unterhielten sich, wohl über ihre Familien oder über Gott und ihre Welt.

Bald legten sich auch die anderen Dispute so fließend, wie sie wohl begonnen hatten, und das Stück Stau begann eine ziehende Bewegung, als wäre es ein Organismus. Dann hatte der Bus genug Platz, um von seinen Insassen an den Straßenrand geschoben zu werden, und der Stau löste sich hupend auf - fröhlich hupend, wie es jetzt schien. Wundervolles Freetown.

Exzessiver Tanz

Es war Nacht geworden, und er musste das eigene Auto übersehen haben, als er dort am Kreisverkehr wartete. Sierra Leone-taugliches Handy hatten er noch keines, und er wusste nur, dass das Hotel, in dem er wohnen würde, 5 10 hieß. Angeblich hatten es die Lehrer der Stadt gegründet. Es hieß eigentlich 5.10., da besagtes Datum hier der Tag der Lehrer war.

Er fragte nach dem Hotel und wurde von Häuserblock zu Häuserblock begleitet, damit er auch nicht verloren gehen konnte. So kam er durch enge Gassen, die an eine englische Stadt des neunzehnten Jahrhunderts erinnerten, überquerte Brücken, unter denen zähe Bäche voll Müll und Unrat flossen, schaute auf Balustraden, auf denen ältere Männer Seite an Seite Game-Boy spielten, und sah Marktfrauen beim Abbauen ihrer Stände zu.

An einer Ecke waren meterhohe Lausprecher aufgebaut, und Love-Rock dröhnte auf höchster Lautstärke durch die Straßen. Die Frauen tanzten exzessiv, ihre übrig gebliebenen Kräuterbünde über den Köpfen schwingend und ihre Hüften lasziv kreisend, während die Männer im Takt den Müll auf kleine, offene Wägen schaufelten, und die Kinder sich rhythmisch ihr Fufu und ihren Jolof-Reis in die hungrigen Mäuler schoben. Dance, Freetown, dance.

Lautsprechertöne aller Art

Vor dem 5 10 stand die Statue einer Lehrerin und eines Lehrers. Sie hielten gemeinsam ein Buch in die Höhe und wiesen den Weg in eine Zukunft der Worte und des Wissens.

In der Rezeption hing über dem friedlich schlafenden Angestellten ein selbst genähtes Transparent, auf dem in bunten Buchstaben geschrieben stand: "If you can read this, thank a teacher". Er wollte es sofort tun, musste sich aber eingestehen, dass er sich nicht einmal an den Namen seiner Volksschullehrerin erinnern konnte, obwohl er das liebe Gesicht der alten Dame und ihre streng nach hinten gekämmten Haare noch vor sein inneres Auge rufen konnte.

Sein Zimmer hatte einen Balkon, von dem aus man über die Stadt, ihre verrosteten Wellblechdächer und ihre nur von Batterielampen und generatorbetriebenen Glühlampen beleuchteten Straßenzüge schauen konnte. Stimmen, Motorengeräusche und Lautsprechertöne aller Art wehten durch die heiße Nacht. "If you see and hear this, da body is free".

https://www.facebook.com/MichaelGlawogger

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