Diskussion über die ostdeutsche Seele:Vom Glück der Gurken

Eine ostdeutsche Seele gibt es zwar nicht, aber sie möchte trotzdem gerne gestreichelt werden. So weit das Ergebnis einer Anhörung der Linken, zu der eine Menge Senioren kamen, die ein ausgedehntes Rederecht einforderten. Warum die Veranstaltung trotzdem viel über die Deutschen aussagt.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Es sei keine besonders dankbare Aufgabe, ausgerechnet nach Gregor Gysi eine Rede zu halten, hatte sein Vorredner, Filmemacher Lutz Rentner, schon geäußert. Chris Deutschländer, Verlagsleiter der Zeitschrift Das Magazin, setzt noch eins drauf: Noch schwieriger als nach Gysi eine Rede zu halten, sei es, nach 13 Uhr eine Rede zu halten. Und ergänzt frech für das Publikum: "Sie sehen sich ja nicht selbst."

Es dauert ein bisschen, bis der Witz im Saal des Museums für Film und Fernsehen am Potsdamer Platz angekommen ist, aber dann erntet Deutschländer ein paar Lacher. Einige der wenigen an diesem Tag, denn die meisten im Publikum sind gekommen, um zu meckern.

Fast nur Ostdeutsche, fast nur Rentner

"Die ostdeutsche Seele - öffentliche Anhörung und Diskussion" hat die Partei Die Linke die Veranstaltung genannt, und mit der Frage "Sind die Ossis anders drauf - und wenn ja, wie?" den Saal prall gefüllt. Sechs Stunden lang wird hier am Montag darüber diskutiert, ob die ehemaligen Bewohner der Ex-DDR immer noch die Bewohner eines anderen Planeten sind, und wenn ja, wie sie sich dabei fühlen. Die Frage ist nicht: Gibt es noch Unterschiede, macht die Unterscheidung zwischen "Ossi" und "Wessi" überhaupt noch Sinn, denn: Es sind fast nur Ostdeutsche gekommen, und darunter wiederum fast nur Rentner. Sie alle haben den Großteil ihres Lebens in der DDR verbracht, die meisten sehnen sich heute noch danach - zumindest ein bisschen. Sie fühlen sich als Ossis, und sie würden es eigentlich auch gerne bleiben, wenn es recht ist.

Warum das so ist, erzählen einige der Rentner im Publikum zwischen den Diskussionsreden auf dem Podium sehr bedächtig, sehr ausführlich, vergessen zwischendurch, was sie sagen wollen und sehen trotzdem nicht ein, dass auch ihre Redezeit bei einer Anhörung begrenzt sein muss. Begrenzt ist dann hin und wieder Moderator Roland Claus, und zwar in seiner Geduld. Die ein oder andere bissige Bemerkung zur Einhaltung der Redezeit kann er sich nicht verkneifen.

Insgesamt aber ist man hier bemüht, dass jeder sagen kann, was und so lange er es will, in seinem Tempo. Die Stimmung ist friedlich, solidarisch, viele kennen sich. Und nicht zuletzt ist das Ganze eine Wahlkampfveranstaltung, mit der die Linke ihre ostdeutschen Wähler mobilisieren und auch ein bisschen bauchpinseln will: Wir hören euch an, wir verstehen euch, ihr müsst uns helfen, dass eure Stimme in Deutschland auch nach der Bundestagswahl noch gehört wird, lautet das Motto.

Diskriminierung der DDR-Bürger

Fraktionsvize Dietmar Bartsch scheut sich nicht, das auch so zu formulieren. Es sei schließlich oberstes Ziel, diesen Wahlkampf erfolgreich zu wuppen. Unterstützung erhält er von einer seltenen Spezies aus dem Publikum: einem Ami-Ossi, der sich auch selbst so bezeichnet. In feinstem amerikanisch verbreitertem Ossi-Slang gibt er der Parteispitze Anleitungen an die Hand, wie die Wahl zu gewinnen sei: "Die Kipping" hätte in die Hochwassergebiete reisen sollen, die bekannten Linken-Gesichter sich zu den Brennpunkten begeben, noch aggressiver solle man auf Antifaschismus setzen, denn da sei man ja nun wirklich Spitzenreiter.

Der Mann hat ja recht. Wie fast alle an diesem Tag recht haben. Es gebe diese ominöse ostdeutsche Seele vermutlich gar nicht, wird ein ums andere Mal gemutmaßt, nachdem erst ein Ossi seine ehemaligen Landsleute und dann ein Wessi seine ehemaligen Landsleute als die kreativere Spezies bezeichnet hat. Einig ist man sich auch darin, dass die Wessis eher vorwärtspreschten, und dann sei nichts dahinter, und die Ossis eher einen abwartenden Charakter an den Tag legen würden.

Friedlich, bedächtig, respektvoll

Das Arbeits- und Wirtschaftsystem habe beide Teile Deutschlands nun einmal unterschiedlich geprägt. Die einen seien produktiver, die anderen dafür sozialer eingestellt gewesen. Es sei einzusehen, welches Wirtschaftssystem nun die Oberhand gewonnen habe, nicht aber, warum die Vorteile des unterlegenen automatisch hätten mit abgeschafft werden müssen. Von der gestärkten Rolle der Frau etwa könne man gerade heute noch profitieren, genau wie vom freien Bildungssystem, wenn "Kohl und Konsorten" nicht automatisch bei der "Übernahme" alles hätten ausradieren wollen, was die DDR auch an Positivem ausgemacht habe.

So friedlich und bedächtig, wie an diesem Tag die Diskussion um teilweise tiefe Wunden und ein verlorenes Weltbild geführt wird, so respektvoll, wie die Redner aus dem Publikum aufeinander ein- und miteinander umgehen, wird deutlich: Wenn es eine ostdeutsche Seele gibt, dann verdient sie es, gestreichelt zu werden. Die Linke hat das wohl erkannt - und sie täte gut daran, Veranstaltungen wie diese nicht nur im Wahlkampf abzuhalten.

Und sei es nur, um immer wieder zu betonen, was Deutschländer am Ende noch einmal verdeutlichte: Es lohne sich nicht, sich darüber immer wieder aufzuregen, wie diskriminierend mit der DDR und ihren Bürgern umgegangen worden sei und immer noch werde. Die Sache sei vorbei und werde auch nicht mehr wiederkommen. In ein paar Jahrhunderten werde niemand mehr über die Einwohner dieses kleinen kommunistischen Ex-Landes sprechen. Und die Jugend wisse schon heute nicht mehr, dass Berlin einmal geteilt gewesen sei.

Darüber sind viele Anwesende empört - aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig, es einzusehen. Sie trösten sich darüber hinweg, indem sie ein paar Gurken aus dem Mittagsbüfett stibitzen - vorbei an der Schlange der Wartenden, und noch bevor die Servicekraft das Büfett eröffnen kann. Die ewig Zukurzgekommenen, es gibt sie immer noch. Aber zumindest an diesem Tag wirken sie dabei doch recht vergnügt.

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