"Disconnect" im Kino:Vom Virtuellen zur handfesten Prügelei

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Stripper Kyle (Max Thieriot) will Erotik in den vermeintlich sicheren virtuellen Raum verlagern. Dann begegnet ihm in "Disconnect" die Realität. (Foto: Phil Bray/dpa)

Mit der Neugierde des Dokumentarfilmers leuchtet Henry-Alex Rubin in "Disconnect" in die halb- oder illegalen Winkel des Internets. Dort öffnen sich immer neue Fenster zu immer neuen Lebensgeschichten.

Von Martina Knoben

Du hast Post! Nicht um E-Mails geht es, ganz altmodisch-analoge Pakete werden in der ersten Filmsequenz verteilt. Sie führt in ein Haus mit höhlenartigen Zimmern, jedes lässt sich anklicken, hängt mittels Laptop und Kamera am Netz. Junge Leute wohnen hier, sind ganz lässig drauf wie in einer großen WG. Tatsächlich ist das Haus das Zentrum eines Porno-Chats. Die Kids strippen oder masturbieren vor der Kamera, dafür schicken ihre Online-Kunden teure Turnschuhe, Stilettos oder überweisen Flugmeilen.

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Von den SZ-Kinokritikern

Es ist die Neugierde des Dokumentarfilmers, mit der Henry-Alex Rubin in die halb- oder illegalen Winkel des Internets leuchtet: Porno-Chats, Cybermobbing, Online-Kriminalität. Mit dem Dokumentarfilm "Murderball" (2005) über querschnittsgelähmte Rugbyspieler, wurde Rubin bekannt und für den Oscar nominiert. "Disconnect" ist sein erster Spielfilm, ein Ensemble- und Episodenstück -"Short Cuts" aus dem digitalen Zeitalter.

Immer neue Fenster zu immer neuen Lebensgeschichten

Die Erzählstruktur passt zum Gegenstand: Immer neue Fenster zu immer neuen Lebensgeschichten öffnen sich wie Links im Internet. Dabei verschwimmen die Grenzen der Erzählstränge, und es gibt keine Hierarchie. Das Drama einer Mutter (Paula Patton), deren Kind gestorben ist, die Trost in einem Internetforum sucht, ist nur eines unter vielen.

Da gibt es die Geschichte des Anwalts Rich (Jason Bateman) und seiner Familie: Man ist so beschäftigt mit Jobs und Mobiltelefonen, dass sie die Einsamkeit ihres Sohnes Ben (Jonah Bobo) nicht wahrnehmen. Der wird zum Opfer von Schulkameraden, die eine Online-Freundin erfinden, der Ben ein kompromittierendes Foto schickt: "Liebessklave" hatte Ben auf seinen nackten Körper geschrieben und sich selbst fotografiert. Sein Gesicht ist auf dem Foto zu sehen.

Unglaublich, was die Figuren im Netz von sich offenbaren. Der junge Online-Stripper Kyle (Max Thieriot) entblößt sich körperlich; Ben schickt ein extrem privates Foto an eine virtuelle junge Frau. Cindy, die trauernde Mutter, erzählt einem Unbekannten aus einem Forum von ihrer Ehe, die keine mehr ist, seitdem ihr Kind starb. Ihr Mann Derek (Alexander Skarsgård) pokert virtuell - zwei Online-Strategien, mit dem Verlust umzugehen; miteinander zu reden gelingt kaum. Bei den Chats hat Cindy außerdem einen falschen Link angeklickt; ein Online-Betrüger klaut ihre Identität und räumt unter ihrem Namen das Familienkonto leer. So knallen virtuelle und reale Welt aufeinander.

Die Personen hantieren ständig, als ob sie zu ihren Körpern gehörten, mit iPhones, iPads oder Notebooks, die sie mit Unbekannten in Verbindung bringen, aber von den unmittelbaren Mitmenschen abschotten. Ein seltsames, viel zu intimes Verhältnis: Als die Fernsehjournalistin Nina (Andrea Riseborough) auf der Suche nach einer Story den Online-Stripper Kyle kontaktiert, berührt sie das Touchpad des Notebooks so zärtlich wie einen Menschenkörper. Rubin gelingen einige treffende Bilder. Dass er seinem großen Thema inhaltlich kaum gerecht werden kann, möchte man nicht allzu übel nehmen, weil anderes sehr stimmig ist. So ist das Licht in vielen Sequenzen gedämpft, viele spielen innen. Alles wirkt irgendwie breiig, so wie man sich fühlt nach zu langem Surfen im Netz.

So fragmentiert wie das Internet selbst

Dabei ist der Film zunächst so schnell geschnitten, so unübersichtlich und fragmentiert wie das Internet selbst, um dann immer ruhiger und "analoger" zu werden. Alles soll in den vermeintlich sicheren virtuellen Raum verlagert werden - Trauer, Rache, Sex, Freundschaft, Liebe -, begegnet den Personen dann aber umso heftiger in der realen Welt. Manchmal ist das arg lehrstückhaft, wenn etwa beim gutbürgerlichen Abendessen der Sohn die neuesten Einträge bei Facebook checkt, während der Papa auf dem Handy einen Anruf von einem Klienten empfängt. Um den Sohn kümmert er sich erst, als es schon (fast) zu spät ist: Kein Wunder, dass das in der Familie "übersehene" Kind irgendwie "gestört" ist, dass der Sohn bei der ersten großen Lebenskrise keinen Ausweg mehr sieht.

"Disconnect" ist kein seelenloses Thesenstück. Der Film berührt, weil die Episoden traditionell erzählt werden. Die Figuren haben Tiefe und sind glänzend gespielt. Ihre Lebensfäden werden schicksalhaft verknüpft. Und zu ihrer Läuterung gehört es, dass ihre Begegnungen immer analoger werden, immer handfester, bis hin zur Prügelei. Am Ende tut allen etwas ganz real weh. Auch das kann ein Gewinn sein.

Disconnect , USA 2012 - Regie: Henry-Alex Rubin. Buch: Andrew Stern. Kamera: Ken Seng. Schnitt: Lee Percy, Kevin Trent. Musik: Max Richter. Mit: Jason Bateman, Hope Davis, Max Thieriot, Mi kael Ny qvist, Paula Patton, Andrea Riseborough, Alexander Skarsgå rd. Verleih: Weltkino, 115 Minuten.

© SZ vom 03.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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