Sozialismus:Der Staat als Maschine

PKW Trabant wird 50  - Produktion am Fließband

Beim ersten Versuch funktionierte die Planwirtschaft nicht so ganz: Trabant-Produktion in Zwickau 1970.

(Foto: dpa)

Sozialismus mit dem Supercomputer? Linke träumen davon, die Planwirtschaft mit moderner Technik doch noch zum Laufen zu bringen.

Von Adrian Lobe

Derzeit zeigt sich in Venezuela die Hybris der Planwirtschaft: leere Supermarktregale, eine Hyperinflation von 1000 Prozent, lange Schlangen an den Zapfsäulen. Und das, obwohl das südamerikanische Land die größten Erdölreserven der Welt besitzt.

Der Chavismus, eine Spielart des Sozialismus, ist sowohl als gesellschaftliches als auch wirtschaftliches Modell gescheitert. Der steuerungstheoretische Einwand, den die ökonomische Klassik, wie sie etwa der österreichische Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek vertrat, gegen den Sozialismus vorbrachte, war, dass der Planer nie bessere Echtzeitinformationen haben kann als der Markt. Der Staat vermag nicht mit einer Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) den Bedarf von Autos oder Büchern zu antizipieren. Durch die Fortschritte der Informationstechnologie, wo Unternehmen (Stichwort Big Data) massenhaft Daten analysieren und Präferenzen vorhersehen und die Gesellschaft zum Betriebssystem mit algorithmischen Feedbackschleifen wird, könnte dieser Einwand jedoch hinfällig sein.

Schon Allende wollte Chile kybernetisch steuern

Der schottische Computerwissenschaftler Paul Cockshott und der US-Wirtschaftsprofessor Allin Cottrell schreiben in ihrem 1993 erschienen Buch "Towards a New Socialism", dass durch leistungsfähigere Computer, angewandt auf mathematische Iterationsverfahren und Simulationstechniken wie etwa neuronale Netze, eine effektive Planwirtschaft möglich sei.

"Seit der erstmaligen Propagierung des sozialistischen Prinzips der Bezahlung in Form von Arbeitszeit wurden ernsthafte Einwande vorgebracht: Die Menschen sind nicht gleich, so dass es weder gerecht noch wirtschaftlich sei, sie gleich zu bezahlen. (...) Es ist auch eingeworfen worden, dass die Bezahlung in Form von Arbeitszeitäquivalenten auf Robinson Crusoes Insel zwar funktionieren würde. In einer wirklichen Volkswirtschaft wäre sie sie wegen der Komplexität des Problems nicht praktizierbar. Wir wenden dagegen ein, dass moderne Computertechnologie wenig Schwierigkeiten damit hat, zu berechnen, wie viel Arbeit in die Produkte eingegangen ist."

Mit modernen Computern könnte man aktuelle Arbeitswerte berechnen und wöchentlich einen neuen Perspektivplan entwerfen. "Auf unser Problem bezogen, besteht die Aufgabe darin, die Planung einer Volkswirtschaft und deren Machbarkeit mit allen notwendigen Berechnungen auf dem Computer durchzuführen. Dabei haben wir die Ordnung des Algorithmus und die Anzahl n der Eingabedaten zu bestimmen."

Cockshott und Cottrell bemühen ein Gedankenexperiment: "Nehmen wir an, dass wir das Problem auf modernen Hochleistungscomputern, wie zum Beispiel die Alpha Server, die von der Internetseite von Altavista benutzt werden, lösen wollen. Ein 128 Prozessor Alpha Server hat eine Rechengeschwindigkeit von 100 Milliarden arithmetischen Operationen in der Sekunde, wenn er mit großen Datenmengen rechnet. Die Zeit, die benötigt würde, um alle Arbeitszeiten einer Volkswirtschaft zu berechnen, beliefe sich auf eine Größenordnung von 100 Millionen Sekunden, was etwa 30 Jahren entspräche."

Es sei klar, dass dies zu langsam ist. Beim Gebrauch heutiger Supercomputer sei die Berechnung der Arbeitszeiten für eine ganze Volkswirtschaft in nur wenigen Minuten machbar. Die volkswirtschaftlichen Gleichungen könnten von einem großen Server gelöst werden, falls die dazugehörigen Daten unbearbeitet sind. Vier Komponenten würden dazu benötigt: ein öffentliches Telefonnetzwerk, eine Reihe von Internetzugängen, ein PC mit einem Modem und ein allgemeinen Artikelkennzeichnungssystem, wie es für den Einzelhandel entwickelt wurde.

Computer spielen besser Schach, Go und Poker als der Mensch

Der Text wirkt an einigen Stellen antiquiert: Die Suchmaschine Altavista ist längst Geschichte, längst wählt man sich nicht mehr mit dem Modem ins Internet ein. Man muss bedenken, dass das Buch 1993 in Druck ging, als es weder Google noch Facebook gab und die Erfindung des World Wide Web gerade einmal vier Jahre zurücklag. Das Internet war für das Gros der Bevölkerung ein böhmisches Dorf.

Doch die Argumentation der Autoren ist nicht überholt, im Gegenteil: Die Rechenkapazität hat sich seit damals potenziert. Computer spielen heute besser Schach, Go und Poker als der Mensch. Ein Go-Spiel, das im Schnitt nach 150 Zügen beendet wird, enthält mehr als 10 hoch 170 mögliche Konstellationen auf dem Brett. Das sind mehr, als es Atome im Universum gibt. Wäre es da nicht möglich, einen Großrechner zu programmieren, der in Echtzeit Angebot und Nachfrage einer Volkswirtschaft berechnet?

Die Idee, mit kybernetischen Einheiten ganze Gesellschaften zu steuern, gab es schon in den Siebzigerjahren, als Chiles sozialistischer Präsident Salvador Allende mit dem Projekt "Cybersyn" die Wirtschaft zentral in Echtzeit kontrollieren wollte. In dem Operations Room, so beschreibt es Eden Medina in ihrem Buch "Cybernetic Revolutionaries: Technology and Politics in Allende's Chile", sollte die Staatsführung auf Grundlage von Echtzeit-Daten politische Entscheidungen auf Knopfdruck treffen und die wirtschaftlichen Parameter im Sozialismus konfigurieren - der Staat als Maschine. Damals gab es noch nicht die technischen Mittel; das Projekt scheiterte. Der Historiker Arno Peters entwickelte in einem fiktiven Dialog mit dem Erfinder des Computers, Konrad Zuse, die Utopie eines "Computer-Sozialismus", der mithilfe von Hochleistungsrechnern eine digitale Planwirtschaft ins Werk setzt. "Politisches Ziel des Computer-Sozialismus ist es, mit der Marktwirtschaft und dem Kriege auch die Kriminalität für immer aus der Welt zu schaffen", heißt es in dem Buch.

Es wäre unbillig und wohl auch nicht im Sinne des Erfinders, den Computer zum sozialistischen Werkzeug zu verklären. Was bei der Utopie eines Computer-Sozialismus verstört, ist der Gedanken, die Verfehlungen einer Ideologie revisionistisch zu korrigieren und sie mit moderner Technik neu zu beglaubigen.

Ausgerechnet das turbokapitalistische Uber lebt von Kommandowirtschaft

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Uber, der turbokapitalistische Akteur der kalifornischen Plattformökonomie, eine Art computerisierte Kommandowirtschaft eingeführt hat. Die Uber-Fahrer werden von einem Computer kommandiert, der sie auf bestimmte Routen schickt und durch die automatisierte Preis- beziehungsweise Tarifbildung den nicht gerade üppigen Lohn festsetzt.

Algorithmen analysieren wie ein penibler Buchhalter Fahrten und bewerten die Chauffeure. So ist der Algorithmus bereits der Boss. Uber-Chef Kalanick sagte selbst, dass sein Unternehmen kein Arbeitgeber sei, sondern lediglich eine Softwareplattform, die Angebot und Nachfrage austariert. "Wir setzen keinen Preis fest. Der Markt legt den Preis fest. Und wir haben Algorithmen, die bestimmen, was der Markt ist."

Das klingt fast schon planwirtschaftlich. Der Markt ist nicht mehr ein Ort mit einer Preisbildungsfunktion, wo Angebot und Nachfrage zusammentreffen, sondern ein Computermodell, eine Simulation, die in Echtzeit angepasst wird. Dass Uber in der Silvesternacht 2015 in australischen Metropolen teilweise über 300 (australische) Dollar für einen innerstädtischen Trip verlangte, hat allerdings nichts mit erhöhter Nachfrage, sondern nur mit Profitgier zu tun. Es ist wohl auch ein Fall von Marktversagen: Die algorithmische Preisbildung ist höchst intransparent.

Planbarkeit geht nicht ohne Ausleuchten der Privatsphäre

Andererseits können Computersysteme mit Big-Data-Methoden Angebot und Nachfrage relativ genau quantifizieren. Algorithmen führen schon heute Transaktionen an den Terminbörsen aus, indem sie aus Tweets Stimmungen und Marktsignale ableiten und bestimmte Marktentwicklungen antizipieren. Gleichwohl: Diese Werkzeuge befinden sich im Besitz von Spekulanten und Großanlegern. Cockshott und Cottrell argumentieren denn auch, dass man eine entwickelte Volkswirtschaft nur dann planen könne, wenn man sie ihrer Komplexität beraubt, das heißt, den Finanzsektor vollkommen beseitigt.

Das Problem, worauf Paul Mason in seinem Werk "Postkapitalismus" hinweist, ist jedoch folgendes: "Damit die Planwirtschaft funktionieren kann, muss die Gesellschaft in einen planbaren Zustand zurückkehren. Die Arbeitskräfte sind über ihren Arbeitsplatz mit sämtlichen Aspekten des Lebens verwoben - was geschieht also mit dem Arbeitnehmer, der drei unsichere Arbeitsplätze hat, oder mit der alleinstehenden Mutter, die sexuelle Dienste per Webcam anbietet? Die Antwort: Es kann sie nicht geben."

Planbarkeit auf Mikroebene heißt, alle Bedürfnisse der Individuen zu kennen. Das geht freilich nicht ohne Ausleuchtung der Privatsphäre. Doch genau darauf steuern wir zu. Die Tech-Giganten schaffen mit ihren algorithmischen Steuerungsmodellen (Google weiß anhand der Suchverläufe, wer wann und wo in den Urlaub fährt, anhand der Trends, welches Beauty-Produkt gerade welcher Region in Indien nachfragt wird ) jene Planbarkeit, die Voraussetzung für eine Planwirtschaft wäre.

Im Grunde ist das Ausspähen von Bürgern und die Erstellung detaillierter Nutzerprofile die Dystopie eines computergestützten Kommunismus, in dem zwar jeder gleich ist, weil er auf seine Daten reduziert wird, aber eine kleine Programmierelite die Herrschaft ausübt und diese Daten einseitig kapitalisiert. Und ein Computernetzwerk macht noch keinen vollen Kühlschrank.

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