Die Zukunft der Schrift:Lettern der Macht

Lateinisch, Chinesisch, Kyrillisch oder . . . - welche Schrift am besten ist, zählt in Wahrheit nicht. Denn mit der Schreibart waren immer Macht und soziale Ungleichheit verbunden - und so wird es auch im Zeitalter des Internets bleiben.

Florian Coulmas

Die Schrift bietet heute andere Möglichkeiten als noch vor wenigen Jahren. Wird sie in Zukunft die gleichen Funktionen erfüllen wie bisher? Von der Geburtsurkunde bis zum Totenschein werden die Organisation unseres Lebens und die Struktur unserer Erfahrung von der Schrift geprägt.

Die Zukunft der Schrift: Werkzeug mit Machtpotential: Schriftzeichen verschiedenster Kulturen.

Werkzeug mit Machtpotential: Schriftzeichen verschiedenster Kulturen.

(Foto: Illustration: S. Dimitrov/SZ)

Es ist nicht einfach, sich diesbezügliche Veränderungen auszumalen. Ein Rückblick auf die Funktionen der Schrift mag dabei helfen. Die meisten von ihnen kennen wir aus der Antike, allen voran das Rechnungswesen. Am deutlichsten war das in Mesopotamien. Die überwältigende Mehrheit aller Keilschrifttexte ist wirtschaftlichen Inhalts. Die ersten Schreiber waren Buchhalter.

Verwaltung des Gedächtnisses

Macht und soziale Ungleichheit waren ebenfalls von frühester Zeit mit Schrift verbunden. Schriftkenntnis war immer ein Privileg. Schrift dient auch der Verwaltung des Gedächtnisses. Die Akkumulation "objektiven", nämlich entpersonalisierten Wissens hat seit der Antike stetig an Bedeutung gewonnen.

Die Differenzfunktion der Schrift ist identitätsbildend. Dabei geht es nicht um den Inhalt der Nachricht, sondern um den Anspruch einer Gruppe auf Eigenständigkeit. So erklärt sich etwa das deutsche Beharren auf dem ß, mit dem man sich (etwas krampfhaft) von der Schweiz unterscheidet. Schrift wirkt auch sprachkonstituierend. Nachdem der niederländische Dialekt am Kap mit der Würde des Buchstabens versehen worden war, wuchs ihm schnell der Status einer eigenen Sprache zu: Afrikaans.

Die Funktionen der Schrift haben sich im Laufe mehrerer Jahrtausende entwickelt. In der Antike ein elitäres Privileg, ist die Schriftbeherrschung zu einer unabdingbaren Voraussetzung der Teilnahme am modernen Leben geworden. Das geschriebene Wort, zumal das elektronisch verfügbare, muss heute meistern, wer nicht am Bodensatz der Gesellschaft enden will.

300 Schriftarten

Im Lauf der Jahrhunderte ist die Schrift immer wieder neuen Bedürfnissen angepasst worden. Jeder Versuch einer universellen Definition läuft daher Gefahr, anachronistisch oder kulturell gefärbt zu sein. Einige Tatsachen lassen sich allerdings feststellen.

Wie viele Schriftsysteme gibt es? Wenn man von Piktogrammen, Transkriptionssystemen, Morse- und Strichcode absieht, kommt man auf eine Zahl von etwa dreihundert. Präzisere Angaben zu machen ist schwierig, denn die Klassifikation von Schriften ist nicht einfach. Eine nützliche Unterscheidung ist hierbei die zwischen Schriftsystem, Orthographie und Schrift.

Die Keilschrift und Ägyptisch zum Beispiel sind sowohl auf der Ebene der Schrift als auch auf der des zugrundeliegenden Schriftsystems verschieden. Die Keilschrift wurde vom Sumerischen aufs Akkadische und später auf weitere Sprachen übertragen.

Verschiedene Schrifttypen für dasselbe Schriftsystem

Die Monumentalinschrift von Darius dem Großen (522 bis 486) im iranischen Behistun aus dem frühen 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ist dreisprachig: altpersisch, babylonisch und elamisch. Alle drei Inschriften sind in der Keilschrift abgefasst, aber nach den Regeln verschiedener Schriftsysteme.

Die Schreiber Ägyptens hingegen entwickelten drei verschiedene Schriften, die ein und demselben Schriftsystem Ausdruck geben: Hieroglyphen, die davon abgeleitete hieratische Schrift und die noch kursivere demotische Schrift.

In anderen Teilen der Welt entstanden ebenfalls verschiedene Schrifttypen für dasselbe Schriftsystem, die sich wie Druck- und Schreibschrift nach den Graden ihrer Kursivität unterscheiden.

Der Begriff der Orthographie entstand erst später. Anders als Schrift und Schriftsystem steht er für eine kodifizierten Norm. Stellen die Schriftformen des Deutschen, Englischen, Polnischen und anderer Sprachen verschiedene Schriftsysteme, Orthographien oder Schriften dar?

Lettern der Macht

Obwohl Spanisch und Englisch beide das Lateinalphabet benutzen, haben sie verschiedene Schriftsysteme, denn die Regeln für die Interpretation der Buchstaben sind sehr verschieden. Die christliche Mission, Gutenberg und Microsoft als jüngste Speerspitze westlichen Kulturimperialismus haben das lateinische Alphabet zur weitestverbreiteten Schrift gemacht. Wird sie schon bald von der ganzen Welt benutzt werden?

Aus der Sicht Europas und mehr noch vielleicht Nordamerikas, wo die Lateinschrift noch mehr dominiert, wird die Vielfalt der existierenden Schriften und Schriftsysteme oft übersehen oder als antiquiertes Relikt betrachtet.

Vielfalt in Asien am größten

In dieser Hinsicht ist Asien der reichste Weltteil. Viele wichtige Schriftsysteme haben dort ihren Ursprung: die Keilschrift und die semitischen Schriften im Westen, die indischen Schriften im Süden und die chinesischen, koreanischen und japanischen Schriften im Osten. Was für eine Zukunft haben sie?

Natürlich kann man Chinesisch mit alphabetischen Lettern schreiben. Macht es einen Unterschied, ob Rumänisch lateinisch oder kyrillisch geschrieben wird? Hat das Vietnamesische durch die Ersetzung der chinesischen durch die lateinische Schrift irgendetwas gewonnen oder verloren? Ist das Türkische in lateinischen Lettern weniger türkisch als in arabischen?

Schrift kann gut oder schlecht sein

Kaum. Schließlich dient die Schrift nur dazu, der Sprache eine sichtbare und dauerhafte Form zu verleihen. Hinzukommt, dass Schrift ein Artefakt ist. In allen drei Bedeutungen von System, Orthographie und Graphie kann sie gut oder schlecht sein - mögen wir uns auch scheuen, dergleichen zu behaupten. (Eine Sprache, die drei Nominalgenera braucht, ist doch recht unbeholfen: Mit einer solchen Bemerkung würde man sich kaum Freunde machen.) Bei Schriften ist das einfacher, auch bei Zahlen.

Dass die indisch-arabischen Zahlen besser als die römischen und chinesischen sind, lässt sich nicht bestreiten. Deshalb haben sie sich weltweit durchgesetzt. Ähnlich können auch Schriftsysteme und Orthographien nach ihrer Güte beurteilt werden.

In deutschsprachigen Ländern zerren allem Anschein nach vernünftige Leute die Rechtschreibung vor Gericht. Wer in der Türkei vorschlägt, das türkische Alphabet um die Buchstaben K, X, W zu erweitern, damit die Kurden ihre Namen auf ihre Weise schreiben können, kriegt zu hören, er sei nicht wert, türkische Luft zu atmen. In Griechenland setzte sich die sogenannte "monotone" Schreibung, die auf überflüssige Aspirationszeichen verzichtet, nur nach langen Kämpfen durch. Befürworter und Gegner einer Rechtschreibreform haben stets eigene Gütestandards und ihre eigenen Sachverständigen, die sie bestätigen.

Warum hat sich keine Universalschrift durchgesetzt?

Ist es möglich, darüber objektiv zu urteilen? Die Wissenschaft sollte wenigstens erklären können, wieso ein universelles Notationssystems für Zahlen weniger problematisch ist als für Sprachen. Warum hat sich im Lauf der vergangenen 5000 Jahre keine Universalschrift durchgesetzt, und wäre es möglich, dass das in Zukunft geschieht? Eine einzige Antwort auf diese Frage gibt es nicht, aber sechs Teilantworten.

1. Notationssysteme für Sprachen sind schwerer zu beurteilen als solche für Zahlen. Im Westen gilt das griechisch-lateinische Alphabet als Gipfel der Schriftentwicklung. Aus nah- und fernöstlicher Sicht ist das nicht so evident. Die japanische Silbenschrift ist einfacher und eleganter als fast alle Systeme, die sich alphabetischer Lettern bedienen, so einfach, dass man von Kindern erwarten kann, sie zu beherrschen, wenn sie in die Schule kommen.

Chinesisch ist ein wegen seines großen Zeichensatzes vermeintlich umständliches System. Obwohl die Chinesen seit Jahrhunderten sparsamere Systeme wie die indischen Schriften und auch das Lateinalphabet kennen, haben sie an ihren Zeichen festgehalten. Warum? Offizielle Dokumente der Vereinten Nationen werden auf Arabisch, Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch und Chinesisch veröffentlicht. Der einzige nicht-alphabetische Text, der chinesische, ist immer der kürzeste.

Bei der Qualitätsbeurteilung von Schriftsystemen müssen diverse Kriterien berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden. Die Funktionen numerischer Notationssysteme sind beschränkter, weswegen ihre Vor- und Nachteile leichter zu erkennen sind.

Lettern der Macht

2. Schriftsysteme sind sprachangepasst. Elegant und einfach ist die japanische Silbenschrift für Japanisch, für Sprachen mit komplexeren Silbenstrukturen wie Russisch oder Deutsch weniger. Semitische Schriftsysteme können für semitische Sprachen auf Vokalbuchstaben verzichten. Die Bedeutung ist auch ohne Vokalisierung erkennbar. Für indoeuropäische Sprachen sind solche Alphabete weniger geeignet. Mn knn Dtsch hn Vkl schrbn, br ds st ncht shr prktsch.

Für Sprachen wie das Vietnamesische ist das Lateinalphabet schlecht geeignet. Vietnamesisch hat nicht nur viele Vokale, sondern ist auch eine Tonsprache und hat damit eine Dimension phonetischer Differenzierung, die den semitischen Sprachen, für die das Alphabet zuerst entwickelt wurde, fremd ist.

3. Die vielen Anwendungen der Schrift stehen einer Vereinheitlichung entgegen. Bezüglich mancher Funktionen der Schrift gibt es kulturelle Unterschiede. Die Maxime "schreib, wie du sprichst" ist ein europäisches Ideal, während die relative Autonomie von gesprochenem und geschriebenem Wort immer eine Voraussetzung chinesischer Schriftlichkeit war. Verschiedene Schriftsysteme erfordern verschiedene Fähigkeiten im Bezug auf Gedächtnis, Ausdauer und visueller Differenzierung, was soziale, kulturelle und wirtschaftliche Konsequenzen hat. Schrifttraditionen prägen unser Leben, wie wir die Dinge sehen und insbesondere die Sprache.

4. Das Machtpotential der Schrift fördert die Vielfalt graphischer Codes. Die Geschichte der koreanischen Schrift ist dafür ein gutes Beispiel. Rein systematisch betrachtet ist sie die beste Schrift der Welt. Sie verbindet profunde phonetische Analyse mit Einfachheit und Schönheit der Darstellung und ist für Koreanisch ebenso wie für andere Sprachen geeignet. Wieso wird sie nur für Koreanisch benutzt? Leider setzt sich Qualität nicht immer durch. Von der chinesisch- gebildeten koreanischen Elite, konservativ wie die meisten Eliten, wurde die koreanische Schrift lange gemieden: weil sie neu war, weil sie unchinesisch war und weil sie größeren Kreisen der Bevölkerung ihre Beherrschung ermöglicht hätte. Weite Verbreitung fand die Schrift erst, als die japanischen Kolonialherren sie Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verboten. Nicht ihre Schönheit und systematische Brillanz verhalfen ihr zum Durchbruch, sondern Nationalismus und Machtkampf.

In der Geschichte der Schrift geht es weniger um systematische Verbesserung als um Zugang. Im Altertum verteidigten die Tempelschreiber eifersüchtig die Kunst des Schreibens, auf deren Beherrschung ihre privilegierte Stellung beruhte. Kirchen, Schulen, nationale Akademien und andere standardsetzende Organisationen folgten in ihren Fußspuren, indem sie reglementierten, wer was lesen durfte. Die Kirchen vor allem haben sich jahrhundertelang für die Zensur stark gemacht. Heutzutage erfüllen Verlage die Funktion der Türhüter, und Rechtschreibungen sind wichtige Mittel der sozialen Kontrolle. Seit kürzerem haben Softwaredesigner diese Funktion inne.

5. Schrift kodifiziert sich selbst. Einen universellen graphischen Code gibt es auch deshalb nicht, weil die Schrift die Hauptkraft ihrer eigenen Perpetuierung ist. Ganz gleich, wie gut oder schlecht ein Schriftsystem ist, seine Sichtbarkeit suggeriert die Notwendigkeit seines So-seins. Das erklärt den Widerstand, auf den Schriftreformen gewöhnlich stoßen. Etablierte Schrifttraditionen sind konservativ. Die ägyptischen Hieroglyphen überdauerten mehr als 3000 Jahre. Auch das griechische Schrifttum reicht fast 3000 Jahre zurück, und die Chinesen rühmen sich der längsten ungebrochenen Schrifttradition der Welt, die sich über 4000 Jahre erstreckt. Schrittweise Anpassungen geschehen; doch radikale Reformen stoßen auf Widerstand. Worauf immer man dieses Phänomen zurückführen will, auf Konservatismus, Stabilität oder Trägheit der Kultur - im Gegensatz zur Rede ist die Schrift ein selbst- verstärkendes Mittel zur Realisierung dieser Tendenz. Daher erschwert die bestehende Vielfalt von Schriftsystemen, Orthographien und Schriften die Durchsetzung eines universellen Kodes.

6. Schließlich kann es natürlich sein, dass die Etablierung einer Universalschrift nur eine Frage der Zeit ist. Als das Internet der Allgemeinheit zugänglich wurde, sah es so aus, als sei es schon so weit. Englisch in lateinischer Schrift war völlig beherrschend. Andere Sprachen zählten kaum, Schriften noch viel weniger. Die Verbreitung des lateinischen Alphabets, die mit der Expansion des römischen Reiches und der römisch-katholischen Kirche begann, wurde schließlich durch die "protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus" im Kyberraum zum Abschluss gebracht. Die römische Schrift hatte obsiegt. - Das glaubt heute niemand mehr. Denn während die Gemeinschaft der Internetbenutzer stetig wächst, geht der Anteil des Englischen und der lateinschriftlichen Kommunikation im Kyberraum zurück. Von 1996 bis 2007 hat sich der Anteil des Englischen von mehr als 80 auf 31 Prozent reduziert.

Insbesondere Sprachen alter Schriftkulturen verzeichnen enorme Zuwachsraten, allen voran Arabisch und Chinesisch. Japan, Südkorea, China und Indien sind unter den zehn Ländern, die die meisten neuen Internetseiten einrichten. Die Zahl der elektronisch zugänglichen Sprachen wächst täglich. Dadurch ist der Vorsprung der englischsprachigen respektive alphabetschriftlichen Information im Internet nicht geschrumpft, aber die Befürchtung, das Internet werde unweigerlich der sprachlichen Gleichschaltung Vorschub leisten, hat sich als unbegründet erwiesen.

Das Internet wird polyglotter

Heute beobachten wir eine mehrschichtige Entwicklung. Englisch in lateinischer Schrift ist zu der Sprache geworden, in der mehr Information zugänglich ist und mehr kommuniziert wird als in jeder anderen. Gleichzeitig wird das Internet immer polyglotter; das elektronische Medium eröffnet die Möglichkeit schriftlicher Kommunikation in vielen Sprachen, für die es keine Bibliotheken gibt.

Die Menschen werden weiterhin lesen und schreiben, immer mehr mit elektronischen Mitteln. Freilich ist der Zugang zur elektronischen Kommunikation sehr ungleich verteilt ist. Obwohl heute mehr Menschen lesen und schreiben können als je zuvor, ist die soziale Ungleichheit der Verteilung der Schriftkenntnis noch immer fast so groß wie vor 2000 Jahren. Die Schrift wird ein immer komplexeres und mächtigeres Werkzeug, dessen Beherrschung immer mehr von uns verlangt. Auch in Zukunft wird sie deshalb das sein, was sie in der Vergangenheit war: eine Kraft der Veränderung und ein Mittel der Perpetuierung sozialer Ungleichheit.

Der Verfasser ist Japanologe und derzeit Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio. Der Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, den Florian Coulmas am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen hielt.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: