Die Störgeräusche des Pop:Das soll Musik sein?

Zur Seite, Alter, da kommt die Zukunft: Was den Pop bis zum heutigen Tag politisch macht, sind seine Störgeräusche. Ein Plädoyer gegen den Rotwein-Sound.

Karl Bruckmaier

Der Himmel: blau blau blau wie der Enzian. Und davor ein rosafarbenes Wölkchen. Viel mehr ist an Erinnerung nicht geblieben an den Abend des 1. Juli 1978, als Bob Dylan auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände der "Nazmiefs" (John Lennon) ein Konzert gab; seine erste Tour überhaupt war das durch Kontinentaleuropa, eigentlich unfassbar.

Bob Dylan, dpa

Bob Dylan: Er war in den 70er Jahren so nah am Punk, wie man mit Folk-Musik sein konnte.

(Foto: Foto: dpa)

Eine Bootleg-Aufnahme hilft der Erinnerung auf die Sprünge: Nach zögerlichem Beginn kam das Konzert mit seinen überarrangierten Songs erst gegen Ende so richtig in Fahrt, "Masters of War" war so nahe an Punk, wie ein Folksong seinerzeit nahe an Punk sein konnte; "It's alright Ma" unterschied sich in seinem Hardrock-Arrangement wenig von der Fassung, die Dylan 2008 in Salzburg gespielt hat, dafür ist eine Reggae-Version von "Don't Think Twice" mit einer Querflöte als Lead-Instrument Bob sei Dank wieder in Vergessenheit geraten.

Und doch lag da mehr als bei jedem anderen Konzert in der lauen Luft - ein Fühlen, ein empathisches Einvernehmen unter den Zehntausenden, dem sich selbst Dylan nicht entziehen konnte: "It gives me great pleasure to sing in this place."

Als Menschen

Im Nachhinein weiß man es besser: Der Deutsche Herbst ging an diesem Sommerabend zu Ende.

Hier, zu Füßen eines Sängers, von dem wir noch nicht wussten, dass er demnächst Gott treffen und seine Karriere ruinieren würde, hatten sich neben den damals bei Open Airs allgegenwärtigen US-amerikanischen Soldaten Studenten, AKW-Gegner, Lehrlinge, Schüler, Landkommunarden, Noch-Nicht-Punks und klammheimliche RAF-Sympathisanten versammelt und sich selbst nach langer, düsterer Zeit wieder als Menschen wahrgenommen, nicht als ständige Gegner, als Flügel-Kämpfer, als Opfer im Streit um Definitionen, als selbsternannte Krieger in der Auseinandersetzung der linken Splittergruppen untereinander und in der permanenten Auseinandersetzung mit einem paranoid scheinenden und per se gewaltbereiten Staat.

Sondern als kunterbunter Haufen vieler Einzelner, der jedoch durch eine alte Liebe zu einem Mittdreißiger geeint schien.

Die größte Gemeinsamkeit dieses Kuddelmuddels war die Zugehörigkeit zu einer in etwa gleichen Alterskohorte - und nicht zu einer Klasse. Und wenn doch, dann wollte man das an jenem Abend und an vielen folgenden Abenden nicht wahrhaben.

Nie mehr so politisiert

Der Journalist Klaus Hartung nutzte dieses Dylan-Konzert, um zwei Begriffe in die Welt zu setzen, die seither nicht mehr aus der gesellschaftlichen Diskussion in der Bundesrepublik wegzudenken sind. Zum einen schrieb er - inspiriert von Dylans "Forever Young"? - von "der lang andauernden Jugend im linken Getto", einem Phänomen, das altersresistente Feuilletonisten bis ans Ende ihrer Tage diskutieren werden, zum anderen prägte er erstmals den Begriff von der 68er Generation: "Talking 'bout my generation."

Allein deshalb scheint Popmusik nie politischer gewesen zu sein als an jenem Abend des 1. Juli vor 30 Jahren, nie eindeutiger am gesamtgesellschaftlichen Puls der Zeit, nie mehr so politisiert.

Und doch stimmt auch das Gegenteil: In New York reimte Lou Reed zeitgleich bereits "issue" auf "tissue", man solle sich mit seinen Anliegen den Hintern abwischen, und die Ramones schnüffelten Klebstoff und wussten nicht mehr von der Welt als die Namen der U-Bahnstationen in Brooklyn.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum Pop und Politik heute ganz nebeneinander her zu existieren scheinen.

Das soll Musik sein?

Die Teilhabe der studentischen Linken an Pop kam in Europa zu spät; es reichte gerade noch für ein Althippie-Festival gegen Atomkraft oder peinliche Friedensgesänge am Bonner Rhein.

Neue Sklavenhaltergesellschaft

Pop schien sich abgewandt zu haben von der Politik, zelebrierte die Affirmation, negierte den Protest, feierte sich selbst - die begleitende Theoriebildung verrenkte sich in selbstparodistischer Deutungsgymnastik, bis keiner mehr zuhören oder mitlesen wollte: Zu Jacques Derrida tanzen konnten nur Scritti Politti, wie der Bandname schon sagt.

Heute scheinen Pop und Politik ganz nebeneinander her zu existieren, ja Pop macht in den Händen von Dieter Bohlen den Eindruck, als sei er endgültig zum klingenden Ausdruck einer neuen Sklavenhaltergesellschaft geworden: Herren und Leibeigene sehen wir da, die jeden, die eine Textzeile Dylan trällern können, mit tiefer Trauer erfüllen müssen.

Dagegen hilft auch kein gelegentliches Rumoren im Untergrund, wo Österreichs Popwunder Gustav mal ein paar Strophen Wahrheit singen darf oder die aufrechten Revoltierer von den Goldenen Zitronen ein Stück Theaterbühne für sich usurpieren.

Das Geräusch der Vielen

Aber darum geht es letztlich nicht: Pop war und ist immer schon per se politisch. Pop ist das Geräusch, das die Vielen machen. Nicht mehr der Wohlklang am Hofe, nicht mehr seine bürgerliche Aneignung und damit auch nicht mehr das Wertesystem, das mit den Klängen der Herrschaftsverhältnisse im Europa des 19. Jahrhunderts einherging.

Pop wird anfangs von jenen gemacht, die genau von diesen Verhältnissen und ihren Protagonisten in die USA vertrieben oder verschleppt worden sind: religiöse Sektierer, schwarze Ex-Sklaven, weiße Bergarbeiter, Tagelöhner, Tagediebe, überzählige Söhne und Töchter.

Hin und her fliegen die Ingredienzien einer neuen Musik: Rhythmen aus Afrika, Balladen aus Schottland, völlig neue und demokratische Aufführungsformen wie das gemeinsame Singen aus dem Hymnenbuch "Sacred Harp": Jedes Gemeindemitglied darf sich in die Mitte stellen, eine Nummer aus dem Gesangsbuch ausgeben und das Absingen des Wohlbekannten leiten, dann zurück ins Glied treten.

Herrlicher, demokratischer Lärm

Ein herrlicher, demokratischer Lärm, der sich immer und immer wieder gleich anhört und vertraut: Schönstes Kennzeichen von dem, was kommt, von Pop - dieser Vorwurf, es höre sich alles gleich an. Diedrich Diederichsen hat darüber einmal einen schönen Essay verfasst.

Pop setzt dann so richtig ein mit der technischen Reproduzierbarkeit von Musik, ist also - im Vorgriff auf Benjamins Erkenntnis vom Verlust der Aura eines Kunstwerks aus den dreißiger Jahren - das unschöne Knarzen einer Wachswalze, ist das Kratzen der Nadel auf Schellackplatten mehr als die eigentliche Musik.

Zahlende Zuhörer bejubeln eher den Apparat als die Kunst, die er wiedergibt. Lustigerweise passt zu Beginn der massenmedialen Verbreitung von Musik ein Versatzstück der bürgerlichen Musikwelt am besten ins Ramschkonzept der Fünf-Cent-Klangmaschinen: der Tenor - allein, weil der Frequenzumfang eines Tenors mit den lausigen Reproduktionsmöglichkeiten jener Tage am besten wiedergegeben werden konnte.

Die ersten Fans der Popwelt

Mit den Schellacks und Nickelodeons kommen die ersten Fans ans Licht der Popwelt, die Flappers, die plüschige Hausschuhe tragenden Mädchen aus anfangs besserem Hause; in den zwanziger Jahren entsorgen sie das doofe Grammophon zugunsten des neuen Mediums Rundfunk.

Die veraltete Technologie wird weitergereicht an die Minderheiten am nicht nur geographischen Rande der Gesellschaft: Restposten, billig zu haben in abgelegenen weißen Hinterwäldlersiedlungen, Plantagen, Gettos.

Lesen Sie auf der dritten Seite, wie die Musik im 20. Jahrhundert als Motor der gesellschaftlichen Veränderung fungierte.

Das soll Musik sein?

Dort ist der Markt für die Dinge, welche die Bürgerkinder nicht mehr gebrauchen können. Dort machen die bisher von der Musikwelt und ihren Heldentenören und Tanzorchestern Ausgeschlossenen nun ihre eigene Musik, Gospel, Blues - und ein paar dieser regionalen Tonträger finden ihren Weg zurück in die Herrenhäuser der großen Stadt, wo dann ein John Hammond, Vanderbilt-Erbe, den seltsam außerweltlichen Krach beim schwarzen Personal hört und beschließt, sein Leben dieser Musik zu widmen - auch dem, was sie politisch bedeutet: Dass die Menschen den gleichen Wert haben, dass die Schranken zwischen Schwarzen und Weißen fallen müssen.

Motor der gesellschaftlichen Veränderung

Hammond setzt durch, dass die Rassentrennung in den Orchestern der dreißiger Jahre obsolet wird: Er zwingt geradezu einen Juden aus Chicago wie Benny Goodman, sich mit der jungen schwarzen Sängerin Billie Holiday und der ebenfalls schwarzen Band von Teddy Wilson zusammenzutun - wir sind im Herbst des Jahres 1933.

Die Musik dient Hammond als Motor der gesellschaftlichen Veränderung, was schließlich in der popbefeuerten US-Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre kulminiert - deren Kultfigur Dylan die Protestbewegung wiederum John Hammond verdankt, der den jungen Näsler zu Columbia Records holt und mit seinen Zeitungsartikeln der Welt vorstellt.

Und dieses Nicht-Singen des jungen Dylan, es ist wieder jenes Geräusch, das wir seit den Anfangstagen des Pop hören, immer dort, wo Veränderung ansteht. Man hört dieses politische Störgeräusch in den Gitarrenfeedbacks eines Jimi Hendrix, man hört es aber auch im Raunzen und Schnarren eines Franz-Josef Degenhardt bei den Essener Songtagen des Jahres 1968, wenig später bei Julius Schittenhelm, bei Carl-Ludwig Reichert; man hört es aber auch zuvor im Kreischen der englischen Prä-Pop-Teenager, wenn die Small Faces oder die Beatles auf die Bühne gingen; Pop-Journalist Nik Cohn widmet diesem seltsamen Lärm ein ganzes Buch: Das Störgeräusch wird wahrgenommen.

Das Knarzen erlebt eine Geräusch-Renaissance

Es wird bewusst eingesetzt in der von Kunststudenten betriebenen Do-It-Yourself-Musikbewegung, die mit Punk einhergeht und Gruppen wie Cabaret Voltaire oder einen Fad Gadget oder den Plan hervorbringt.

Das Störgeräusch wird schließlich selbst zur Musik und nennt sich Techno - Was ist denn das für ein Lärm! Das hört sich doch alles gleich an! - und es ist keineswegs ein Zufall, dass mit dem Zerlegen der Wirklichkeit in kleine, digitale Fitzelchen, also mit Sampling auch das Krachen und Knarzen der alten Technologien Schellack und Schallplatte eine Geräusch-Renaissance erlebt:

Wie oft wird es wie ein besonders potentes Gift - oder wenigstens Gewürz - einer ansonsten steril wirkenden Musik beigefügt, die mit modernster Technologie eigentlich so konzipiert wurde, dass eben diese Geräusche für immer der Vergangenheit angehören dürfen?

Datenreduziertes Klang-Nichts

Selbst in den Pop-Brachen, die das Casting-Unwesen beackert, ist das Geräusch nicht ganz zu eliminieren: Jeder besonders falsch intonierte Ton eines Bewerbers bei DSDS ist ein Triumph des Pop im Angesicht seiner Schänder. Und dieses nur noch aus Höhen bestehende Quäken aus Handy-Lautsprechern, was ist es anderes als dieser einzigartige Nerv-Sound, der uns Alte zum Kopfschütteln und zur Weißglut treibt in der U-Bahn - Das soll Musik sein? Da hört man ja gar nichts mehr? Das klingt doch alles gleich! - und damit Pop am Leben erhält.

Welche politischen Konsequenzen dieses datenreduzierte, sich selbst zur Unkenntlichkeit verstümmelnde Klang-Nichts hat, darüber wurde bisher noch nicht nachgedacht.

Vermutlich ist es eine dieser Teenager-Generation angemessene Reaktion auf die erneute Verbürgerlichung der Musik. Was der gerontokratische Mainstream eingemeindet, kann vom nachwachsenden, noch nicht mit Geschmackshoheit ausgestatteten Underground nur negiert werden.

Aber da der Mainstream nicht mehr als eine Musikrichtung zu definieren ist, geht der Angriff eben gegen die technische Benutzeroberfläche, den Wohlklang, die High Fidelity, den Rotwein-Sound des Pop-Connaisseurs, aber auch gegen den Grundgedanken des geistigen Eigentums, der zu Gründerzeiten des Pop-Business nicht die geringste Rolle spielte, sondern im Pop ebenfalls eine Erfindung der sechziger Jahre ist.

Provokation des Bestehenden

Pop ist und bleibt Lärm und geistiger Diebstahl und Provokation des Bestehenden. Zwischentöne sind bloß Krampf im Kampf zwischen Klassen oder Rassen oder Generationen.

Was die einen überhaupt nicht mehr als Musik, nicht einmal mehr als Pop erkennen können, wird den anderen zur Nachtigall. Was keineswegs schlimm ist: Denn die 68er, die einstigen Punks, die gewesenen Love Parade-Besucher mögen sich zwar mit Dylans Worten für "Forever Young" halten, aber dieses neue, fiese Geräusch sagt ihnen wieder mit Dylan: "Something is happening and you don't know what it is". Kurz: Zur Seite, Alter, da hinten kommt die Zukunft.

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