Die Kinder von Neukölln:Die Zombies über Berlin

Schlampen, Puffs und Zichopaten: Unsere Autorin betreibt am Berliner Reuterplatz, in der Nachbarschaft der Neuköllner Rütli-Schule, eine Poesie-Werkstatt. Kein Ort könnte mutiger gewählt sein. Hier ist der erschütternde Bericht aus einer Welt, in der "cool" sich auf "schwul" reimt, und Fünfjährige einander "Verfick dich!" wünschen.

Manuela Mechtel

Im Frühling 2005 bot ich am Reuterplatz in Berlin-Neukölln eine Poesie-Werkstatt für Kinder an. Ich schreibe Bücher für Kinder und habe ein Puppentheater. In einem kleinen Backsteinhaus ist der ¸¸Kiosk e.V." offen für Kinder bis zu 14 Jahren, wochentags nachmittags. Es gibt einen Bolzplatz, einen Spielplatz, eine große Wiese, Bäume, Büsche, Bänke. Umsäumt wird der Reuterplatz von Berliner Altbauten der Gründerzeit und kopfsteingepflasterten Straßen. Eine Großstadtidylle, gleich hinter dem Hermannplatz. Die Rütli-Hauptschule liegt um die Ecke. Kinder tollen herum.

Die Kinder von Neukölln: undefined

Meine erste Begegnung: ein fünfjähriges Mädchen. Es wollte, dass ein Junge es in Ruhe lassen sollte. Es sagte nicht: "Geh weg!", auch nicht: "Hau ab!", auch nicht: "Verpiss dich!". Nein, es sagte: "Verfick dich!" Ich war verblüfft.

Rund um den Reuterplatz leben kinderreiche Familien, meist aus Osteuropa, der Türkei und Palästina. Fünf bis acht Kinder sind hier Normalität. Der Bildungsstand ist niedrig, die Armut groß.

Im Kiosk wird täglich Mittagessen gekocht. Mit einem Essen im Bauch seien die Kinder wesentlich friedlicher und umgänglicher, meinen die engagierten Mitarbeiter. Weniger aggressiv und geladen. Täglich essen hier etwa 15 Kinder.

Eine Poesie-Werkstatt passt eigentlich nicht hierher. Das Team empfing mich zwar mit offenen Armen, war aber skeptisch, die Kinder waren dagegen nach kurzer Zeit begeistert. Sie drängelten sich oft um unseren Tisch im Freien, unter einer Kastanie, um Geschichten zu erzählen. Ihre Themen: Sex, Gewalt, Liebe, Tod. Sie diktierten, ich schrieb auf. Oder die Größeren schrieben selbst kurze Texte auf eine Papiertischdecke. Schreiben fällt ihnen nicht leicht. Deutsch ist meist ihre Zweitsprache. Sie sind schlecht in der Schule. Sie gehen alle nicht gerne zur Schule. Nach einer Weile waren sie ausgesprochen wissbegierig. Sie wollten alles richtig machen. "Pener" ist das richtig so?" - "Nein. Penner schreibt man mit zwei n." Dabei war es mir egal, ob sie orthografisch richtig schrieben. Es ging um die Kreativität. "Zichopat" für "Psychopath" ist genial.

Die Zombies über Berlin

Den Anfang machte die dicke zwölfjährige S. auf einer Parkbank "Darf ich wirklich erzählen, was ich will?", fragte sie lauernd. "Ja, sicher!", nickte ich arglos. S. hatte ein Baby im Kinderwagen dabei. Ihre Schwester. Und ihre Freundin. Sie legte los. "Die blonde Schlampe - das ist die Überschrift." Ich zögerte. "Schreib! Du hast gesagt, du schreibst alles auf." Ihre Geschichte handelt von einem Mädchen, das sich verliebte. Es ließ sich in der Klinik Dr. Keineahnung die Titten vergrößern. Ließ sich die Haare färben, damit es auch so eine blonde Schlampe wurde wie die Freundin des Jungen. Kaufte Unterwäsche, einen Minirock und ein bauchfreies T-Shirt. "Der Junge hat sie gesehen. Im ersten Augenblick war er in sie verknallt!" Sie poppten miteinander. Sie war gleich schwanger. Sie heirateten. Sie bekam einen Sohn. "Das war ein fröhliches Happy End!", diktierte S. Und kicherte, weil ich wirklich alles aufgeschrieben hatte. "Du musst aber damit rechnen, dass es auch andere lesen", erklärte ich ihr. "Das ist eine Poesie-Werkstatt. Soll ich es nicht doch lieber wegschmeißen?" - "Auf keinen Fall!"

Die kleineren Mädchen erzählten "Geschichten über "Die zwei Schlampen", "Die drei Schlampen und die drei Gangster", "Von den vier Schlampen". Alle enden friedlich, idyllisch. Mütter und Väter leben mit ihren Babys. Heile Welt. "Die drei Schlampen und die drei Gangster gingen schlafen Und die drei Babys." Sie setzten die Namen der anderen Kinder ein, amüsierten sich, stritten, wer sich in wen verliebt, änderten die Geschichten, bis alle einigermaßen zufrieden waren. "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch übermorgen."

Sie dürfen zu Hause nicht über Sex sprechen, haben aber natürlich Aufklärungsunterricht in der Schule. Noch dazu waren viele Reklamewände gerade mit Aids-Plakaten beklebt.

O. erzählte stolz, dass er Sexfilme geguckt habe. Im Fernsehen. "Darfst du das denn?", fragten die anderen atemlos. "Meine Eltern sind doch sowieso nicht da", meinte O. leichthin. O. ist ziemlich blass. Er bekommt zu wenig Schlaf. Die Familie hat eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Nachts geht es da laut zu. Im Übrigen ist die Gegend voll mit Sex-Läden und kleinen Puffs. Und Drogen.

Türkische Kinder gehen in ein anderes Kinderhaus. Die Kiosk-Kinder sind hauptsächlich Palästinenser, Bosnier, Roma, Kroaten, Deutsche. Moslems und Christen. Sie interessieren sich füreinander, sie mögen sich. Sie streiten sich und vertragen sich wieder. Eines ist bei allen Unterschieden aber für alle gleich: zu Hause ist es anders als draußen. Ganz anders! Und draußen ist Neukölln 44. Hier ist ihre Heimat. Die Banden und Gangs hängen an ihre Namen eine 44. Die alte Postleitzahl.

Die Zombies über Berlin

Dabei mischen sich die Kulturen auf ungewohnt selbstverständliche Weise. Die achtjährige C. trägt ein Kopftuch und spielt sehr gut Fußball. Die Jungen lassen sie mitspielen. Sport ist bei allen beliebt. Als Fußballer oder Breakdancer Erfolg zu haben, ist ihr Traum. Der Armut entrinnen. K., elf Jahre alt, dichtete:

"K. ist ein Star.

K. 44

Neukölln 44

Ronaldo

Barcelona

NFC Rot-Weiß."

Der blasse O. ist im Breakdance lange nicht so gut wie die Palästinenser. Sie sind phantastisch! O. ist Bosnier. Er ist dünn. Er ist gescheit. Und immer nervös. "Deine Geschichte ist die beste, die hier je erzählt wurde", lobte ich ihn eines Tages. "Du musst zu uns an die Schule kommen", bat er. "Du musst meiner Lehrerin zeigen, wie gute Geschichten wir erfinden können! Wir müssen in der Schule Geschichten erfinden!"

"Schlampen haben wir jetzt genug!", seufzte ich eines Tages. ¸¸Erzählt doch bitte mal von was anderem." Sie erzählten von Zombies und Werwölfen und Toten. Und vom Töten. Die sechsjährige Z. kuschelte sich an mich. Sie wollte auch mal.

"Es war einmal eine Geschichte:

Da war ein Friedhof und da waren viele tote Menschen voller Drachen.

Und dann sind die aufgestanden und dann ist ein Mann gekommen, Fleisch und Blut.

Und dann haben die Toten ihn mit dem Messer getötet.

Und dann war eine Frau da und dann haben sie sie verzaubert in einen Zombie.

Und dann haben sie sie getötet.

Und dann war eine Katze da und hat ihre Freundin Katze besucht.

Und dann war ein Zombie da und hat die Katze getötet.

Und dann..."

Zum ersten und einzigen Mal brach ich ab. "Ich halte das nicht aus!", sagte ich. "Das ist mir zu viel Tod!" Z. lief davon und spielte etwas anderes. Sie sieht süß aus mit ihren braunen Locken.

"Himmel - Pimmel, Pepsi - sexi, schwul - cool" sind die ureigenen Reime der Kinder. Sie versuchen sich einen Reim zu machen auf die Welt. Sie sind kreativ, auch mit der deutschen Sprache. Aber ihr Wortschatz ist klein und voller schlechter Ausdrücke. Sie müssen sich von morgens bis abends durchsetzen in einer Welt, die von dieser Sprache, vom Recht des Stärkeren geprägt ist. Sie wurden immer wissbegieriger. Ließen sich Wörter erklären. Versuchten, sich grammatikalische Fehler in ihrer Alltagssprache abzugewöhnen. Fragten, fragten, erzählten und schrieben.

"Fliegenschiss und olschi furzi.

Das Leben ist doch viel zu kurz.

Wir lieben schlick und schlack und schleim.

Das Leben kann nicht schöner sein!"

Ich schrieb auf unsere große Papiertischdecke: "Die Welt ist...". H., ein zehn Jahre alter arabischer Haudegen, machte daraus:

"Die Welt ist klein. Die Welt ist schwul. Die Welt ist hässlich. Der Himmel, der Pimmel. Pepsi und sexi. Die Wolken sind weiß. Das Gras ist grün. Die Herzen sind die Liebe, die Liebe, die Liebe. I love you"

B. schrieb: "Die Welt ist groß - und Neukölln ist langweilig."

Ich schrieb: "Wenn ich könnte, würde ich . . ." G. ergänzte: "sterben" - "Sterben?", fragte ich entsetzt. "Ja", lächelte er verlegen und setzte " Sex machen" dazu. Und "schlagen". Und "töten". Ich war sprachlos. G. ist einer der wenigen Deutschen. Andere wollten einen Puff eröffnen und nach Uganda fahren. Und in den Libanon.

Der kleine gewitzte A. schrieb: "Das macht Superspaß!" Er ist der Champion im Tischfußball. Seine Milchzähne sind weggefault.

An einem der letzten Tage malte ich ein großes Alphabet auf die Tischdecke. Neuköllner Alphabet nannte ich es. "A wie Affe, B wie ?" - "Breakdance!", lachte T. stolz. C wie cool, D wie Dummkopf und Deutschland. F wie ficken und fixen. H wie Hilfe, Hurensohn und Himmel. M wie Missgeburt und Mutterficker. Aber O wie Opfer. Und Onkel. Z wie Zichopat.

Ich befestigte einen großen Zettel am Haus: Wollen wir unsere Neuköllner Märchen drucken? Ja oder Nein? Die Kinder verstanden nicht, was das sollte. Eine Abstimmung - was ist das? Sie trauten sich kaum, Kreuzchen zu machen. J. riss bald das Papier entzwei. "Nicht schon wieder kaputtmachen!", protestierte ich. Sie lächelte. "Ich hab nur das Nein herausgerissen. Dann kann keiner mehr dagegen sein, oder?"

J. hat manchmal Gesichtszuckungen. Sie erfand folgende Geschichte:

"Es waren einmal viele Zahlen, die konnten nicht aufhören, denn ein Erfinder erfand immer neue Zahlen. Eine Zahl ging mal zum Friedhof und sah einen Zombie. Der Zombie wollte die Zahl zerfetzen und sie auseinander reißen. Doch die Zahl bricht ihm den Arm ab. Der Zombie hatte doch noch zwei Beine und einen Arm. Er hatte so Angst, dass er die Zahl fragte, ob sie mit ihm tanzen würde?

Die Zahl sagte: "Okay." Dann haben sie getanzt. Als sie aufhörten zu tanzen, stellte sich raus, dass die Zahl ein Weibchen war und der Zombie ein Männchen. Dann fragte der Zombie, ob die Zahl ihn lieben würde. Die Zahl hat gesagt: "Ja, du hässlicher Fliegenschiss!" Und dann fragte die Zahl, ob er sie liebte. Der Zombie hat "Ja" gesagt. So heirateten sie. Und dann stritten sie sich. Die Zahl sagte: "Du Schwein! Lass dich hier ja nie wieder blicken in Zombieland!" Dann ließen sie sich scheiden. Der Zombie ging zur Zahl-Familie, und er sah auch den Professor, der die Zahlen erfunden hatte. Der Zombie sagte: "Ich werde euch alle vernichten!" Da kommen alle Zahlen und zerfetzten ihn in Stücke und keiner sah ihn wieder. Und die Zahl hat auch keiner mehr gesehen, denn sie ist von den Zombies zerfetzt worden."

Wir schenkten jedem Kind ein gebundenes Heft mit allen Geschichten und Gedichten. Sie freuten sich. Noch nie hatten sie ein Produkt von sich selbst in der Hand gehabt! Noch dazu ein Druckerzeugnis. In deutscher Sprache.

Und plötzlich lernte ich die Eltern kennen. Sie waren erbost. "Das haben Sie nur getan, weil wir alle Ausländer sind! Neuköllner Märchen! Das ist eine reine Diskriminierung. Sie wissen genau, wo wir hier leben. Dass wir keine Chance haben und unsere Kinder auch nicht! Darum machen Sie uns schlecht!"

Der Großvater der kleinen Z. beschwichtigte: "Z. hat diese Zombie-Geschichte im Fernsehen gesehen. Wir werden sie nicht mehr so viel fernsehen lassen." Ein anderer Großvater wollte mich anzeigen. "Niemals nehmen unsere Kinder solche Wörter in den Mund! Das haben Sie alles erfunden, um uns schlecht zu machen!" Seine zehnjährige Enkelin F. wollte er zum Frauenarzt bringen. Ob sie auch wirklich noch Jungfrau sei, wollte er feststellen lassen. Ich schämte mich ob meiner Naivität. Ich habe die Kinder in noch größere Schwierigkeiten gebracht. Es gelang mir nicht, den Mann zu beschwichtigen. "Sehen Sie sich doch die Welt der Kinder hier an!", argumentierte ich. Aber zum kulturellen Unverständnis kommt noch die Sprachbarriere. Und das Misstrauen gegenüber uns Deutschen. Die kleine F. ist inzwischen tot. Ertrunken im Sommer in einem Münchner Schwimmbad.

Die Kinder sind mir ans Herz gewachsen. Wir haben viel zusammen gelacht und viel zusammen gelernt. Es sind wunderbare Kinder. Ich wünschte, sie hätten eine Chance.

Die Autorin hat ein mobiles Puppentheater in Berlin. Sie schreibt seit zehn Jahren Kinderbücher, darunter "Lilli und der Traumwundertütenverkäufer", Verlag Traumsalon edition, 2002.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: