Die Ketzerei des Fundamentalismus:Höher als Gott

Ob Christen, Juden, Muslime, Tierschützer oder Nichtraucher - unter ihnen allen gibt es einen Glauben, der weltweit die höchsten Zuwachsraten hat: den Fundamentalismus. Er ist der höchstpersönliche Ausweg aus der Individualismusfalle. Doch manchmal macht die neue Ausschließlichkeit krank. Und manchmal tötet sie.

Matthias Drobinski

Jasmin hieß früher Ulrike, da lebte sie noch in ihrer alten Berliner Welt, in der sich alles um Leistung und Geld drehte. Jetzt bedeckt sie Hals, Haare, Stirn mit dem Schleier, betet fünfmal am Tag, und freitags sitzt sie oben bei den Schwestern in diesem waschbetongrauen Industriebau und hört, was ihr der Imam zu sagen hat: Dass sie sich hüten solle vor der sündigen Welt, dass sie sich streng an die Gebote des Islams halten solle - und dass nur hier der reine Islam gelehrt wird.

Pilgrim with his son pray at the Basilica of Our Lady of Aparecida, in the city of Aparecida

Gläubige Katholiken beim Gebet: Der ganz persönliche Ausweg aus der Individualismusfalle.

(Foto: REUTERS)

In der Al-Nur-Moschee in Neukölln, dort, wo auch die radikalen Salafisten zu Hause sind, misstrauisch beobachtet vom Verfassungsschutz. "Ich bin frei geworden von materiellen Dingen und habe Barmherzigkeit erfahren", sagt Jasmin.

Sie hat eine Gemeinschaft gefunden und einen Weg durchs Leben, wo klar ist, wovor sie Angst haben muss und was die Angst überwindet. Eine Frau, selbstbewusst und gut ausgebildet, entwertet sich, unterwirft sich, damit sie den wahren Wert des Lebens finde im religiösen Fundamentalismus; löst in einer höchst individuellen Entscheidung das Ich im Wir auf wie Brausepulver im Wasserglas.

Willkommen, Schwester Fundamentalistin. Willkommen in der Welt der Fundamentalisierung. Fundamentalisten - das sind die Anderen, die Defizitären, die bornierten Ideologen. Wer über sie schreibt, ob über Christen, Juden oder Muslime, Tierschützer, Nichtraucher oder Kindererzieher, tut das schon bald im Ton des Überlegenen: Sie wissen es nicht besser, die Muslime, denen irgendein Bärtiger Parolen ins Ohr schreit.

Sie brauchen klare Strukturen im Leben, wie die jüdisch-orthodoxen Siedler-Frauen, mit einem Mann, der nicht einfach nach dem siebten Kind abhaut. Sie sind enttäuscht von der Welt wie der verhärmte Gegner der Evolutionstheorie. Sie müssen die Welt retten, um von der eigenen Rettungslosigkeit abzulenken, wie der militante Tierschützervegetariernichtraucher.

Glaubenssätze statt eigener Gedanken

Jedenfalls kommen sie mit der Moderne nicht zurecht und beten deshalb lieber feste Glaubenssätze herunter, statt sich selber Gedanken zu machen, unterwerfen sich entmündigenden Regeln und autoritären Führern; sie sind eben von gestern.

Das ist ein Irrtum. Fundamentalismus ist modern. Er ist ohne die Moderne nicht vorstellbar und die Moderne nicht ohne ihn. Er wohnt in uns Individualisten, weil er eine höchst individuelle Angelegenheit ist. Wir tragen ihn in uns, unauslöschlich, als abgründigen Teil der eigenen Freiheitsgeschichte, deren anderer Abgrund die Auflösung aller Grundsätze in endgültiger Vorläufigkeit ist.

Er ist uns eigentümlich vertraut, umso mehr, je mehr wir unsere eigenen Götter erschaffen. Denn das tut der Fundamentalismus auch. Und manchmal ist er dabei intelligenter als die durchschnittlich bornierte Alles-egal-Liberalität. Das macht ihn so gefährlich. Das lässt ihn - über die Religionen und Ideologien hinweg! - zur gegenwärtig erfolgreichsten und am stärksten wachsenden Glaubensrichtung der Welt werden.

Der Kosmos der Reinen

Der Fundamentalismus ist eine Bedrohung für Christen, Juden und Muslime, für Menschen, die ihren Glauben mit Toleranz und Individualität verbinden wollen. Er ändert die Welt und justiert die Fronten neu: hier die Hemisphäre des Vorläufigen und Kompromissgeplagten, dort der Kosmos des Unbedingten, Reinen.

Die Ausläufer des Konflikts reichen via Facebook bis ins eigene Wohnzimmer: Man versuche einmal, im Netz bei Foren zu den Themen Abtreibung, Israel oder Pelztierhaltung mitzureden. Die geistige Grundhaltung des Fundamentalismus beruht auf der Vorstellung, dass die Gegenwart die Vergangenheit verraten habe, weshalb die wahrhaft Gläubigen nun zum Ursprung zurückfinden müssten.

Der Fundamentalismus selber ist aber ist ein Kind des 20. und 21. Jahrhunderts; ein Kind mit einem christlichen Namen. "The Fundamentals" hieß die Buchreihe, die der amerikanische Erweckungsprediger Reuben Archer Torrey von 1914 an übernahm; sie wandte sich gegen die historisch-kritische Bibelauslegung, gegen die liberale Theologie.

"Fußspuren des Messias"

Torrey, ein hochintelligenter Mann und glänzender Prediger, ist selbst ein Vertreter dieser Bibelforschung gewesen, dann aber bekehrte er sich: Nur im reinen Wortlaut der Bibel, im Fundament des Glaubens, lag für ihn die Wahrheit. Es waren religiös aufgeladene Zeiten. Am 9. April 1906 hatten in einem kleinen Haus in Los Angeles William Joseph Seymour und seine Freunde eine "Geistausgießung" erfahren - die Pfingstbewegung nahm ihren Anfang.

Die christlichen Fundis waren nicht die Einzigen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg gründeten jüdische Strenggläubige die Agudat Israel, die "Union Israel", deren westeuropäischer Zweig in der jüdischen Besiedlung Palästinas zunehmend die "Fußspuren des Messias" sah.

1928 schließlich gründete Hasan al-Banna die ägyptische Muslimbruderschaft, und bis heute erstaunt es, wie buchstabengetreu die Islamisten die westlich-fundamentalistische Kritik der modernen Zivilisation aufgreifen, mal, als würde ihnen Oswald Spengler die Hand führen, mal, als kämen sie frisch aus dem marxistischen Indoktrinationskurs.

Man kann sie sich kaum unterschiedlicher vorstellen, die amerikanischen Erweckungsprediger, jüdischen Heiliglandträumer, Islamisten. Und doch einte sie viel: Sie heiligten die Schrift. Sie teilten die Welt in Gut und Böse ein, sie verachteten das Unentschiedene des Liberalismus. Sie waren antistaatlich und antiinstitutionell, setzten auf die kleine Gruppe, die persönliche Erfahrung, die radikale Entscheidung.

Sie gaben vor, das Ursprüngliche wieder zur Geltung bringen zu wollen - und brachen doch radikal mit den Traditionen ihrer Religionen.

Widersprüchliches Nebeneinander von Religion und Alltag

Denn das voraufgeklärte Christentum und Judentum, der traditionelle Islam, sie alle lebten mit dem widersprüchlichen Nebeneinander von gegebenen Regeln und praktischem Alltag. Sie wussten, dass die Fastengesetze, Speiseregeln, Gebetszeiten und die Gebote zur Frauen-, Ehe- und Sexualkontrolle unumstößlich stehen, die Wirklichkeit des Lebens aber anders sein konnte.

Die Aufklärung geißelte diese Ambiguität als bigott und verlogen. Ihre Vertreter forderten das Ende des Dogmatismus - eine allgemeine ethische Grundhaltung müsse in immer neuen Situationen neues Handeln bedingen.

Der Fundamentalismus übernahm die aufklärerische Kritik, folgerte aber das Gegenteil daraus: Das Leben hat den Regeln zu folgen, die Abweichung ist des Teufels. Der Fundamentalismus ist ein Teil der Aufklärung; der Islamwissenschaftler Thomas Bauer aus Münster hat das jüngt im Bezug auf den Islam herausgearbeitet; es gilt genauso für Pfingstkirchen, traditionskatholische Piusbrüder, Ultraorthodoxe, Jakobiner aller Himmelsrichtungen.

Wandlungs- und lernfähig

Der Fundamentalismus hat sich als wandlungs- und lernfähig erwiesen, wie auch die liberale, sich marktwirtschaftlich organisierende Gesellschaft. In Palästina und Libanon stehen Hamas und Hisbollah für soziale Gerechtigkeit und gegen die Korruption der PLO. In Lateinamerika sind viele Frauen Trägerinnen der wachsenden Pfingstkirchen: Sie akzeptieren die theologische Abwertung, weil der neue Glaube die Männer verpflichtet, mehr zu arbeiten, weniger zu trinken und weniger zu huren.

In Europa und den USA sind fundamentalistische Gruppen häufig in der Form moderner als die traditionellen Kirchen und Parteien: In ihren Kirchen hat das Schlagzeug die Orgel abgelöst, die Kontakte sind international, der Austausch, die Information, die Radikalisierung erfolgen im Netz - der Offline-Zweifler und Nachdenker erscheint als Spießer.

Überzeugung und individuelle Lebensform können, aller verbalen Sozialkontrolle zum Trotz, eklatant auseinanderklaffen. Auch das macht es heute leicht, ein Fundi zu sein. Es gewinnt, wer sich abgrenzt, weltweit. In Afrika, Lateinamerika und den Ländern Asiens ist das so - weil Abgrenzung und Profilschärfe im Kampf der Religionen um Menschen, Einfluss und geistige Ressourcen die größte Durchschlagskraft erzielen.

Im reichen Westen ist das so - weil untergeht, wer sich nicht unterscheidet. Darin besteht ja die Qual, wenn man sich den eigenen Gott schaffen muss, zusammengesetzt aus den vielen möglichen göttlichen Zutaten: Man muss immer das Eigene schaffen, wie man sich ernährt und die Kinder erzieht, was man anzieht und wohin man in die Ferien fährt, was man liest, mit wem man sich befreundet, was man für Sünde hält und was für Erlösung.

Ruin gemeinsamer Sprache

Man muss sich alles offen halten, so, wie der Käufer des Geländewagens, der davon ausgeht, dass es ja sein könnte, dass er sich in der Stadt verfährt und unversehens mitten auf dem Acker landet - und dann, endlich, vorbereitet ist.

Das kann ein furchtbar anstrengendes Leben sein. Der Fundamentalismus ist der höchstpersönliche Ausweg aus der Individualismusfalle. Da gibt es klare Lehren, fertige Lebensstile und Erziehungskonzepte, die richtigen Hosen und das gottgegebene Rezept, mit und ohne Fleisch. Man muss ja nicht das ganze Leben dabeibleiben, aber für den Moment hilft es ungemein, manchmal auch fürs ganze Leben.

Manchmal allerdings macht es krank. Und manchmal tötet es. So kommt es, dass sich in der westlichen Welt das Lebens- und Lebensabschnitts-Fundamentalismus ausbreitet, so sehr, dass sich inzwischen aufgeklärt besonnene Atheisten bedrängt sehen von den toleranzlos Unduldsamen in den eigenen Reihen.

Die neue Ausschließlichkeit bedroht den Dialog in den Religionen und den der Religionen untereinander, sie ruiniert gemeinsame Sprachen, sie segmentiert die Welt in sich selbst bestärkende Untergruppen mit ihren jeweils eigenen Göttern.

Die anderen sind in der Defensive. Die anderen, die irgendwo dazwischen stehen, die wissen, dass ein Glaube nicht nur Wellness ist, sondern auch von gemeinsamen Lehr- und Grundsätzen lebt, die aber nicht lebensfern erstarren dürfen.

Für die Vernunft und Glaube zusammengehören, die aber auch Platz haben für das Mystische, Geheimnisvolle des Religiösen. Die sich immer wieder neu justieren müssen und leise die Stimme des Fundamentalisten in sich selbst hören: Wie wäre es, wenn du das Durchwursteln ließest und dir einfach einen strengen Glauben zulegtest?

Es droht, verkürzt gesagt, die Mitte verlorenzugehen zwischen den Fundis und den Alles-egal-Menschen. Sich einfach einen strengen Gott zulegen, das ist die Versuchung des Fundamentalismus und sie wirkt. Sie wirkt umso stärker, je mehr man davon ausgehen kann, dass die Strenge dieses Gottes sich gegen die Anderen richtet - und einen selber rechtfertigt, das eigene Verhalten und Leben.

Verlust des Geheimnisses

Das ist die eigentliche Häresie des Fundamentalismus: Er stellt sich über Gott, indem er das Deutungsmonopol über ihn beansprucht, sich zum Maßstab des richtigen Lebens erklärt.

Er versucht dem Transzendenten, dem Ersten und Letzten des Lebens, das Geheimnis zu nehmen: Wir wissen, was Gott will. Wir kennen ihn. Er hat uns gesagt, wo es langgeht. Was aber ist das für ein Gott, dem das Geheimnis genommen ist, der transparent ist wie ein vollständig ausgefülltes Facebook-Profil? Der nicht mehr fremd sein darf, wo man doch erst dem nahekommen kann, der fremd war und bleibt?

Das ist die Stärke, die Hoffnung der Nicht-Fundamentalisten unter den Gläubigen aller Art: Der lebendige Gott, überhaupt jedes lebende Sinngebäude, lebt vom Fremden, davon, dass es unergründlich bleibt, weil das Leben unergründlich und nicht steuerbar ist - nur so kann es lebendig sein, traurig und glücklich, leidvoll und lustig.

Ein ausgedeuteter, berechenbarer Gott ist tot, ein Untoter bestenfalls, der sein bisschen Lebenskraft aus denen saugt, die ihm zu Diensten sind. Und das ist ja die Osterhoffnung, die die Christen über die eigene Religion hinaus der Welt verkünden: Das Leben siegt.

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