Die Hintergründe des Terrors:Hass auf die Väter

Im Außenamt erörtern Psychoanalytiker, Soziologen, Ärzte, Friedensforscher und Historiker den Terrorismus. Mit erstaunlichen Erkenntnissen.

CAROLINE NEUBAUR

Als es die Baader-Meinhof-Gruppe noch gab, war unsere Gesellschaft bandenfixiert, heute ist sie terrorismusfixiert und wartet angst-lustvoll auf Katastrophen. Mit der Terrorismusfaszination kehren archaische Reaktionsweisen zurück: Geiselnahme, Mauerbau, Zerstörung auf Deubel komm raus - in diesem Amalgam begegnen sich Moderne und Steinzeit auf beiden Seiten.

Die Hintergründe des Terrors: Hass auf den Westen und seine freiheitlichen Werte: Osama bin Laden.

Hass auf den Westen und seine freiheitlichen Werte: Osama bin Laden.

(Foto: Foto: AP)

Vom Nahen Osten "weiß" es jeder: Modernisierungsblockade! Aber auch wir sind in der Moderne noch nicht richtig angekommen, sondern haben viel von derselben Steinzeit in uns wie die Islamisten. Und da diese nicht nur in der Steinzeit hausen, sondern sich zugleich in einer rasenden Modernisierung befinden - deshalb müssten sich "Gute" und "Böse" unter Generalamnestie zusammensetzen, statt G-8 Gipfel zu veranstalten.

Das Auswärtige Amt führte dies jetzt als weltweit erstes Experiment durch: Es lud in Zusammenarbeit mit der internationalen und den beiden deutschen psychoanalytischen Gesellschaften Psychoanalytiker, Soziologen, Islamisten, Judaisten, Friedensforscher, Ärzte und Historiker zu einer interdisziplinären Konferenz, um das gravierendste Thema der Außenpolitik in der modernen Gesellschaft zu diskutieren, den Terrorismus, die kollektiven Phantasien und die Verleugnung, die mit ihm einhergehen.

Unterschiedenes ist gut

Zur Terrorismusfaszination gehört der Versuch, das Phänomen in ein einheitliches Bild zu fassen, denn - Analyse hin oder her - am Ende gibt es einen heißen Kern, das unbekannte Ding an sich im Terrorismus, das ihn von uns unterscheidet. Das ist Nonsens, auch wenn die religiöse Dimension in diesem Argument für manchen verlockend klingen mag.

Den Teilnehmern in Berlin schwebte das Gegenteil vor; um es mit den Worten des großen Philologen Peter Szondi zu sagen: Unterschiedenes ist gut. Das Auswärtige Amt konnte als Ort symbolisch nicht passender gewählt sein. Soll Außenpolitik nicht ein ohnmächtiges Werkzeug sein, dessen sich Terroristen aller Länder bedienen, dann muss sie anfangen, sich mit den Deutungsmustern einer sozialen Pathologie zu beschäftigen.

Warum nicht das Innenministerium? Schlecht wäre auch das nicht, aber es steht stärker unter Verfahrenszwängen. Die Außenpolitik bewegt sich in Ritualen der Diplomatie, im Rahmen ihrer Ritualisierungen sind viele Denkmöglichkeiten erprobbar, die Innenpolitik bewegt sich eher in Maßnahmenkatalogen, bei denen es darauf ankommt, ob die Instrumente stumpf sind oder ob sie schneiden.

Psychoanalytiker wissen vielleicht nicht so viel vom Islam, wie sie sollten, aber sie waren ja auch gekommen, um zu hören: Peter Heine, Berlin, Gehad Mazarweh, Freiburg, Dan Diner, Leipzig/Jerusalem informierten über den Islamismus aus islamwissenschaftlicher, soziologischer und politologischer Sicht.

Die Analytiker sind allerdings darauf vorbereitet, dass das Einheitsbild von dem Terrorismus auch unter ihren eigenen Differenzierungen zersplittert. Ihnen ist geläufig, dass man, um an die Terrorismusfaszination heranzukommen, in die eigenen Verliese steigen muss.

Das, was der Terrorismus in actu anrichtet, ist eine Katastrophe; was er potentiell anrichtet, ist die Zerstörung der Denkstrukturen derer, die sich fatalerweise auf ihn einlassen - fatalerweise deshalb, weil er Alternativen produziert, die für eine Demokratie nicht annehmbar sind. Werner Bohleber, Frankfurt, warnte in seinem Eröffnungsvortrag in der Humboldt-Universität vor einer Verleugnung der terroristischen Gefahr.

Die totalitäre Tendenz des Fundamentalismus allgemein lässt sich nach Bohleber als versuchter "Ausweg aus interkulturell entstandenen schweren Konflikten" verstehen, zugleich aber als Abbruch des adoleszenten Entwicklungsprozesses. Daraus entsteht ein Denken, in dem konkrete Wahrnehmung durch abstrakte Stereotypen ersetzt wird.

Vor allem Kinder, so die Therapeutin Abigail Golomb, Tel Aviv, werden unter den Folgen des Terrorismus zu leiden haben, ob sie sich mit den Terroristen identifizieren, ob sie direkt von ihnen betroffen sind oder ob sie sich zu ihnen als "teilnehmende Beobachter" verhalten. "Der Terrorismus erzeugt ein anderes Ich und Über-Ich, in denen Angst, Verdacht und gewalttätige Abwehr zum Ichideal werden, anstatt als Gefühle verarbeitet und sublimiert zu werden."

Yuli Tamir, Philosophin aus Tel Aviv, entwickelte kühl, wie der Terrorismus uns den Hobbesschen Leviathan zurückbringen wird. Dass der Staat gegen Angst aufgerufen wird, beschwört eine religiöse Fortsetzung der Idee vom Nationalstaat herauf, der seinerseits schon einen religiösen Anspruch erhoben hatte. Auch ein Staat, der seine theokratischen Allüren längst hinter sich gelassen hat, neigt dann dazu, zu seiner Legitimation die Angst, das "Fürchtet euch nicht" der Religionen, als seine eigene Botschaft an sich zu ziehen.

Die Demokratie kann Terrorismus nicht mit Terrorismus bekämpfen

Die zweite Lehre, die uns der Terrorismus verpasst hat, ist nach Tamir die Verwundbarkeit. Saudiarabien ist zwar auch verwundbar, aber es kann Terrorismus mit Terrorismus bekämpfen, was die Demokratie nicht kann.

In welthistorischen Momenten ist eine Änderung möglich. Wenn der Staat das Gewaltmonopol hat, kann ein Ghandi ihn durch Gewaltlosigkeit aushebeln. Wenn der Staat das Gewaltmonopol nicht mehr hat oder wenn heftig an ihm genagt wird, brechen beispielsweise die Märkte zusammen. Der globalen Wirtschaftsmacht gegenüber ist der Staat ins Hintertreffen geraten, aber auch sie darf nicht nackte Gewalt ausüben.

Der Wirtschaftsprimat der letzten Jahrzehnte, der den Nationalstaat obsolet gemacht hat, könnte durch die Anrufung des Staats als Heilsbringer gegen die Angst tatsächlich von einer neuen totalitären Staatsideologie abgelöst werden.

Eindrucksvoll war es, einmal von einem Palästinenser, dem Psychoanalytiker Gehad Mazarweh, Freiburg, die arabischen Erziehungspraktiken aus erster Hand geschildert zu bekommen. Die Intifada zeigt sich in diesem Licht nicht nur als verzweifelter politischer Befreiungsversuch, sondern auch als Ausbruch psychisch ausweglos unterdrückter Adoleszenten.

Mazarwehs Diagnose passte gut zu der von Ruth Stein, Psychoanalytikerin aus New York, die es für typisch für die Mentalität des Monotheismus hält, dass der Vater nicht gehasst werden darf. Der Hass gegen ihn wird in Selbsthass verwandelt und in seiner unerträglichen Destruktivität auf "geeignete" Opfer projiziert.

Stein konzentrierte sich in ihrer Figur des "vertikalen homoerotischen Verlangens nach Gottes Liebe" auf die patriarchale Diskussion - die Blutopfer im Hinduismus oder Christentum, die durch ein weibliches Mysterium gegangen sind, sind nicht weniger schrecklich, aber anders herzuleiten. Die Frau existiert im Islam nicht als gleichberechtigtes Wesen und vor allem nicht als symbolisch repräsentiertes. Doch muss auch hier die Lage nicht aussichtslos sein.

Entscheidende Veränderungen haben sich immer dann ergeben, wenn auch nur eine einzige Frau in der Familie Intellektuelle wurde. Geschieht das massenhaft, geht eine vernünftige Konkurrenz los: die Männer wollen sich nicht lumpen lassen.

Der Heilige Franz des Islam

Was hat eigentlich den christlich motivierten Selbsthass in Europa aufgefangen, dessen Ausdruck die Geißlerscharen oder die schweren Misshandlungen untereinander waren? Er konnte in der Tradition des Antisemitismus projektiv "bewältigt" werden.

Das heute politisch korrekte Tabu über dem Antisemitismus führt in Westeuropa vielfach dazu, dass der palästinensische Judenhass verharmlost wird, so die These von Micha Brumlik, Direktor des Fritz Bauer-Instituts, die er mit einer Fülle von Beispielen belegte. Die Verbindungen von Antisemitismus und Terrorismus sind vielfältig. Da ist zunächst Israel, das für die kollektiven Phantasien eine Amerika-Stellvertreterrolle spielt. Dann gibt es über die Argumentationen seit dem 19. Jahrhundert, die NS-Vorbereitung, und die NS-Zeit die Direktverbindung vom europäischen zum arabischen Antisemitismus.

Die Abstände zwischen dem, was man analysiert, und der Möglichkeit, darauf noch einwirken zu können, sind unvorstellbar groß, wie auch die Sprachen auf der Konferenz nicht von allen gleichzeitig verstanden wurden. Das ist dennoch nicht entmutigend. So wie in den islamischen Gesellschaften nicht der Hass, sondern die Vielfalt "geschürt" werden muss, so auch in den Diskussionen über sie.

Es gab in jüngster Zeit den Ruf nach einem islamischen Luther, um den mentalen Rückstand im Orient aufzuholen. Vielleicht wäre es besser, wenn es einen islamischen Heiligen Franz gäbe. Denn wie alle Psychoanalytiker und anders als Luther war Franziskus nicht der Meinung, dass "innen" und "außen" nichts miteinander zu tun hätten.

(SZ vom 18.6.2004)

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