"Die große Regression":Wer von neoliberaler Verschwörung redet, darf von Digitalisierung nicht schweigen

Pro-Trump rally participants mix with Anti-Trump protester as the two sides clash during a Pro-Trump rally in Huntington Beach

Während einer Pro-Trump-Rally treffen Unterstützer und Gegner des US-Präsidenten in Huntington Beach, Kalifornien, aufeinander.

(Foto: REUTERS)

Was haben linke Denker dem Aufstieg der Rechten entgegenzusetzen? Der Suhrkamp-Band "Die große Regression" zeigt: nicht viel mehr als Protest und Zynismus.

Von Gustav Seibt

Was für ein merkwürdiger Begriff für eine Gegenwartsdiagnose: Regression. Einerseits hat er etwas spontan Einleuchtendes, man denkt an Hassorgien im Internet, an die erfolgreichen Tabubrüche Donald Trumps, den fremdenfeindlichen Brexit-Wahlkampf, den sich verbreitenden Hohn auf politische Korrektheit. Und man kann an andere "Regressionen" denken wie den Abbau sozialer und ökonomischer Sicherheiten in einer "neoliberalen", global entgrenzten Wirtschaftsweise.

Die Autoren des Sammelbands "Die große Regression", den die Edition Suhrkamp als jüngsten Nachfolger ihrer jahrzehntelangen Ambition, die "geistige Situation der Zeit" zu erfassen, vorlegt, verwenden beide Aspekte des Worts, den sozialpsychologischen und den sozialpolitischen. Allerdings liegt das Schwergewicht eindeutig bei der Sozialpsychologie, auch wenn diese ganz traditionell materialistisch auf ökonomische Bedingungen zurückgeführt wird.

Es ist nützlich, die Tragweite dieser semantischen Vorentscheidung im Blick zu behalten, weil sie andere begriffliche Möglichkeiten in den Schatten rückt.

"Regression" kommt aus der Psychoanalyse und beschreibt den neurotischen Rückfall in frühe Stufen der Triebentwicklung; eigentlich geht es um ein Krankheitsbild. Eine markante, aber marginale soziologische Karriere machte der Begriff in der Theorie des Zivilisationsprozesses von Norbert Elias.

Dort beschreibt er zivilisatorische Rückfälle, so bei den Deutschen im Nationalsozialismus, massenpsychologische Enthemmungen, Abbau von Triebsteuerung (etwa des Grausamkeitsverbots), Entsublimierungen aller Art. Auch die "Dialektik der Aufklärung" Horkheimers und Adornos kennt solche Rückfälle, hier als Umschlagen (von Aufklärung in Mythos) dargestellt. Die aufgeklärte Moderne kann verrohen und infantil werden, auch in der Konsumkultur, lautet eine Lehre des 20. Jahrhunderts.

All das hat also eine gewisse Anschaulichkeit, es ist aber schwer zu fassen. Es bezeichnet den interessanten, von Heinrich Geiselberger herausgegebenen Band, dass kaum einer der durchweg prominenten Autoren - Vordenker der Linken von Indien bis Amerika, unter denen man eigentlich nur Chantal Mouffe vermisst - über den Leitbegriff des Bandes gründlich reflektiert.

Die Ausnahme ist Oliver Nachtwey, der Diagnostiker der "regressiven Moderne" in seinem Band zur "Abstiegsgesellschaft" von 2016.

Diese Linke verliert kein Wort über Smartphones und die digitalen Revolutionen

Mit solcher definitorischen Askese aber kommt nicht in den Blick, wie paternalistisch, ja pathologisierend der Regressionsbegriff eigentlich ist, obwohl die Autoren gerade solche Herablassung vermeiden wollen. Denn die ausgesprochene Intention der allermeisten Beiträger ist es, den "erschreckend unzivilisierten" Protest als begründet ernst zu nehmen, sogar im Aufstieg rechter Bewegungen, im herzhaft-brutalen Widerspruch gegen politische Korrektheit, im "Populismus", ihn also rational zu dechiffrieren.

Schuld sei nämlich, so das Unisono, "der Neoliberalismus", die globalisierte Wirtschaftsweise, die sich nach dem Ende des sowjetischen Kommunismus siegreich ausgebreitet hat, also der Komplex von Freihandel, Entgrenzung der Arbeitsmärkte, Deregulierung von Finanzmärkten und Sozialstandards, der die überkommenen Sicherheiten in den Containern national verfasster Sozialstaaten infrage stellt.

Nationalismus ist rational, wenn er die Anspruchsrechte der Besitzlosen auf die sozialstaatliche Allmende gegen globalisiertes Lohndumping und Migration meint. Gering ausgebildete weiße Männer werden wütend, wenn sie entdecken, dass kreative Schwule und Frauen in Führungspositionen dem Neoliberalismus lieber sind.

Revolte der Ungewaschenen

"Diversity" wird zum Vorteil im Konkurrenzkampf um Arbeit und Aufmerksamkeit. Wenn linke Parteien ihre klassische Klientel nicht mehr vertreten, dann dringen Populisten in die "Repräsentationslücken" ein. Populismus ist der Aufstand der "Ungewaschenen" (Wolfgang Streeck) gegen kosmopolitische Trickbetrüger. Und es gibt nicht nur offenen Protest, sondern auch die stille Auswanderung aus der pädagogisch als Ende der Geschichte gefeierten liberalen Demokratie.

Jedermann kann diese Diagnosen mittlerweile nachbeten. Wer sie auf unterschiedlichen Niveaustufen wirklich noch einmal lesen will, mag die Beiträge von Arjun Appadurai bis Slavoj Žižek vergleichen und allerlei Binnendifferenzierungen, je nach den nationalen Hintergründen (Indien, Italien, USA, Israel, Bulgarien, Frankreich, England, zweimal Deutschland, Belgien und Frankreich) mit Interesse zur Kenntnis nehmen. Aber ist das wirklich ein Best-of linken Denkens in der Welt? Das wäre erschütternd.

Unschärfen im Detail und große Leerstellen in den Diagnosen

Das beginnt damit, dass die Neoliberalismus-Saga erschreckend unkonkret bleibt. Leidet Italien wirklich an Deregulierung und nicht doch eher an Mafia, Staatsklientelismus, sklerotischer Justiz und einem unterirdischen Ausbildungswesen? Neoliberal mag die internationale Umgebung für Italien geworden sein und damit wirtschaftlichen Misserfolg verschärfen, auf sein Innenleben hat sich das bisher kaum ausgewirkt.

Freilich, wer "Lebensweisen" (Streeck) unter allen Umständen unter Artenschutz stellen will, muss den Italienern auch ihren Schwarzgeld- und Schwarzarbeitskapitalismus lassen. Um bei Streeck, der sich vom psychologisierenden Regressionsverständnis erfreulich fernhält, zu bleiben: Er blickt mit Zustimmung auf Theresa Mays Versprechen der "one nation". Hoffen wir darauf, dass es sich nicht nur um die rhetorische Vorbereitung des Moments handelt, in dem britische Regierungen nicht mehr alles was, was schiefläuft im Land, auf "Brüssel" schieben können.

Viel erschütternder als Unschärfen im Detail bleiben die großen Leerstellen dieser Diagnosen. Es erscheint in ihnen nämlich so, als sei der gegenwärtige Weltzustand vor allem eine Verschwörung neoliberaler "Eliten", die, befreit vom Druck des Kommunismus, die Welt seit 1989 umgebaut haben.

Aber war da nicht noch etwas anderes? Fand nicht seit den Neunzigerjahren eine Revolution in den Produktivkräften statt, die die erste industrielle Revolution mittlerweile an Geschwindigkeit in den Schatten stellt? Kann, wer vom Neoliberalismus redet, von der Digitalisierung schweigen?

Das gilt übrigens nicht nur für Märkte und Betriebe, sondern auch für politische Revolten und Migration. Seit Luthers Reformation und ihrem vom Buchdruck gestützten Schnellerfolg dürfte kein Kommunikationsinstrument eine so revolutionierende Wirkung gehabt haben wie das Smartphone. Kein Wort dazu in der "Großen Regression"!

Reaktion heißt jetzt also Regression und findet viel Verständnis

Damit hängt zusammen ein Umbau in der öffentlichen Kommunikation, bei dem die Regressiven getrennt marschieren und vereint schlagen. Dem Brexit voraus ging ein jahrzehntelanges Brüssel-Bashing der Murdoch-Presse, so wie Trump natürlich auch ein Produkt der planmäßigen Verschärfung des Tons im amerikanischen Privatfernsehen ist. Auch im intellektuellen Überbau gibt es seit Langem schöne Querfronten: von Boris Johnson zu Perry Anderson, von Peter Gauweiler zu Wolfgang Streeck.

Protest entsteht nicht einfach, er ist machbar. Facebook-Revolutionen können inzwischen auch die Rechten anzetteln. "Eliten" gibt es im Zweifelsfall überall. Und wenn man Lügenvorwürfe oft genug wiederholt, werden sie auch geglaubt. Denn, und das ist die eigentliche Schwäche des Regressionsbegriffs: Es gäbe ja auch immer noch die gute alte Reaktion.

"Reaktion", ursprünglich ein Begriff aus der Newtonschen Physik, wurde seit 1789 zum konstanten Begleiter von Fortschritt und Revolution. Doch anders als bei "Regression" sind hier keine schillernden Pathologien gemeint, sondern bewusste Haltungen und Maßnahmen. Dabei konnten die Reaktionäre übrigens immer an ein selbstkritisches Bewusstsein der Aufklärung von den Kosten des Fortschritts anknüpfen. Reaktionäre standen an der Spitze der Gesellschaft, aber Fortschrittsfeinde und Maschinenstürmer gab es auch an der Basis.

Nicht nur wehrlos, im schlimmsten Fall dumm und zynisch

Der Anspielungshorizont des Suhrkamp-Bandes ist Karl Polanyis schon 1944 erschienene Studie "Die große Transformation", die die kapitalistische Zerstörung traditioneller Lebenswelten in der ersten industriellen Revolution analysiert. Marktwirtschaft und Nationalstaat gingen dabei eine Verbindung ein, die sich derzeit wieder auflöst - die jüngste Regression kann als Widerstand gegen diese neue große Transformation gelesen werden.

Dieser Vergleich ist allerdings wenig ermutigend. Wütender Protest wird nicht reichen, es sei denn, man hofft auf den großen Kladderadatsch. Es wäre schön, die Linke käme mit umfassenden Vorschlägen, die mehr bedeuten als "Stahlhelmkapitalismus" (Adam Tooze), Verlangsamung, Sand im Getriebe oder das lustvolle Starren auf ein "Interregnum" mit Chaos und Gewalt. Der Begriff der "Regression" macht sie nur wehrlos, im schlimmsten Fall dumm und zynisch.

Heinrich Geiselberger (Hrsg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 320 Seiten, 18 Euro. E-Book 15,99 Euro.

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