Die gestörten Umgeschulten:Alles Gestörte. Überall.

SZ-Redakteur Martin Zips über aggressive, umgeschulte Linkshänder, Linkshirnigkeit, Linkshänder in der Bibel und den "Knoten im Gehirn".

Fahren Sie auch schon mal rechts, obwohl Ihr Beifahrer gerade 'links' gesagt hat? Müssen Sie Sich auch dauernd Eselsbrücken bauen, damit Sie nicht alles vergessen? Können Sie ohne Probleme Spiegelschrift lesen oder schreiben, bekommen aber Schweißausbrüche, wenn Sie zwei Tätigkeiten gleichzeitig verrichten müssen?

AP

Sind alle tobsüchtigen, depressiven, nägelkauenden Menschen umgelernte Linkshänder?

(Foto: Foto: AP)

Dann sind Sie bestimmt ein umgeschulter Linkshänder mit einem 'Knoten im Gehirn'. Beruhigen Sie sich - Sie sind nicht allein.

In einer neuen psychologischen Studie über umgeschulte Linkshänder (rechtsschreibende Menschen, die von ihrer Veranlagung her Linkshänder sind) lernen wir Frau H. kennen:

Der linkshänderfeindliche Nikolaus

Frau H., die in den fünfziger Jahren eingeschult wurde, denkt mit gemischten Gefühlen an ihre Abc- Schützen-Zeit zurück. Sie war begierig danach, schreiben zu lernen. Mit kindlichem Frohsinn startete sie ihre ersten Schreibübungen und versuchte sich in eleganten Schwungübungen.

Doch dann kam der Nikolaus in ihre Klasse und fragte: 'Kannst du deinen Namen schreiben?' Als sie mit 'vollem Einsatz' loslegte, legte auch Knecht Ruprecht los, holte mit seiner Rute aus und gab ihr - Peng! - eins auf die Fingerchen.

Kind H. war mehr als verdutzt: Und Nikolaus? Er rechtfertigte sogar noch das Vorgehen seines Adjutanten: 'Damit du dir merkst, daß du mit der rechten Hand schreiben sollst und nicht mit der linken.' Fortan schrieb Frau H. ausschließlich rechts.

'Die Umstellung der angeborenen Händigkeit ist eine der massivsten Eingriffe in das menschliche Gehirn ohne Blutvergießen, ohne pathologische Unterversorgung mit Sauerstoff oder Zufügung von Giften', schreibt die Münchner Psychologin Johanna Barbara Sattler in ihrem Buch 'Der umgeschulte Linkshänder oder Der Knoten im Gehirn'.

Noch heute leide Frau H., wie die vielen anderen, die mehr oder weniger ruppig auf rechts gepolt wurden, an Gedächtnisstörungen und Konzentrationsschwäche.

"Händigkeit ist Hirnigkeit"

In anderen Fällen führe die Umschulung gar zu Legasthenie, Störungen der Feinmotorik, zum Stammeln oder Stottern, weiß Sattler. Auch Nägelkauen, Migräne, Bettnässen, Tobsuchtsanfälle und Magengeschwüre seien schon vorgekommen. 'Händigkeit ist Hirnigkeit' Sattler leitet seit mehr als zehn Jahren in München die bundesweit einzige Beratungsstelle für Linkshänder.

Aus ihrer 375 Seiten umfassenden Studie wählt sie einige der 4 500 Einzelschicksale aus, die ihr in den vergangenen Jahren begegnet sind. Der 22jährige Burkhard etwa, der unter Depressionen und Schlafstörungen leidet.

Oder Student Matthias, der in den Vorlesungen plötzlich in Spiegelschrift mitschreibt, weil er so besser folgen kann. Und Solvejg, die sich von ihrem rechtshändigen Freund Christian bloßgestellt fühlt, weil sie seine ständige '1-plus-1-Logik' als Affront gegen ihre Person empfindet. Sattlers Studie ist ein Plädoyer gegen die Umschulung der von Geburt an festgelegten Links- oder Rechtshändigkeit.

'Händigkeit ist Hirnigkeit', lautet ihr Leitsatz. Jeder Versuch, sie zu ändern, führe zu komplexen Funktionsstörungen der natürlichen zerebralen Abläufe. Wird ein Linkshänder durch prügelnde Nikolausknechte oder nervige Familienmitglieder ('Gib Tante doch das schöne Händchen!') zum ausschließlichen Gebrauch seiner nicht dominanten rechten Hand verdonnert, dann fährt sein Gehirn Achterbahn.

Alles Gestörte. Überall.

Der Anteil der ausübenden Linkshänder an der Weltbevölkerung wurde bislang auf sieben bis 15 Prozent geschätzt. Angesichts der zalhreichen tobsüchtigen, depressiven, nägelkauenden Zeitgenossen fragen wir uns jedoch: Wie hoch ist der Anteil der umgeschulten Linkshänder unter den Menschen?

Psycho AP

Alles Gestörte. Überall.

(Foto: Foto: AP)

Bis zu 50 Prozent der Weltbevölkerung Linkshänder

Auch hier weiß Psychologin Sattler eine Antwort - und sie ist das eigentlich Revolutionäre in ihrem Buch: Wenn die 'vielen Genetiker', die den tatsächlichen Bevölkerungsanteil der Linkshänder auf 50 Prozent schätzten, recht behielten, schreibt Sattler, dann hieße das, daß der Rest, 'bis zu dem tatsächlichen Anteil, umgeschult worden ist, mit allen negativen Folgen'.

Moment. Das überlegt sich der linkshändig schreibende Journalist noch einmal in seiner rechten Gehirnhälfte: Das hieße ja, daß fast jeder dritte Mensch womöglich ein tobsüchtiger, depressiver, nägelkauender, weil umgeschulter Linkshänder wäre.

'Die schwachen Persönlichkeiten unter den umgeschulten Linkshändern flüchten sich meist in Selbstmitleid, Weltschmerz und Krankheiten und sind leicht verführbar zu Alkoholmißbrauch, Drogen und dem Einfluß von verschiedenen Sekten und Ideologien', sagt Sattler.

Peng! Auf die Finger! Peng! Ehe kaputt!

Und: 'Das Gefühl, Opfer einer nicht rational begründbaren Chancenungleichheit zu sein, birgt in sich auch einen gesellschaftlichen Sprengstoff.' Peng! Man kriegt eins über die Finger. Peng! Die Gehirnhälften verknoten sich. Peng! Die Ehe geht kaputt. Peng! Sozialer Sprengstoff entsteht.

Unser permanent nörgelnder Nachbar wäre dann nichts anderes als ein umgelernter Linkshänder, der durch seine ständigen Unverschämtheiten nur den Ärger über seine Tante Elke kompensieren möchte.

Der überforderte Chef ein hysterischer Hypochonder, dessen umgeschulte Gehirnhälften bei jeder organisatorischen Panne durcheinanderpurzeln. Der Politiker ein Egozentriker, der durch seinen übersteigerten Leistungsdrang und die Selbstdisziplin nur seine 'Behinderung' zu überspielen versucht.

Ungefähr so, wie der altgriechisch stotternde Demosthenes, der sich mit Kieselsteinen im Mund ans tosende Meer begab, um ausgerechnet dort die freie Rede zu üben.

Alles Gestörte. Überall. Der statistisch fehlende Anteil an Linkshändern 'lebt, von der Allgemeinheit praktisch nicht wahrgenommen, mit allen entstandenen und kumulierten Benachteiligungen und Beeinträchtigungen, seinem Einzelschicksal überlassen und in diesem isoliert, ungewollt diskriminiert und sich selbst diskriminierend, in unserer Gesellschaft weiter', heißt es in der Studie.

Biblische Linkshänder

Ein Circulus vitiosus mit fatalen Folgen für die Menschheit. Und alles nur wegen Tante Elke und Knecht Ruprecht . . . Und woher nahmen die ihre Sicherheit, daß links alles so unschön ist? Aus der Bibel etwa?

'In diesem ganzen Heer gab es siebenhundert Männer, Linkshänder. Alle diese konnten mit einem Stein aufs Haar genau schleudern, ohne zu verfehlen' - wird im Buch Richter 20,16 die Elitetruppe Benjamins beschrieben: Linkshändigkeit gilt hier als Ausdruck besonderen kriegerischen Geschicks.

Auch geistig sind die Linkshänder ihrer Umwelt voraus, so die Bibel. Zumindest, wenn es darum geht, Boshaftigkeiten auszuhecken: Ehud, ein pfiffiger Linkshänder aus dem Stamme Israel, versteckt ein Messer an seinem rechten Fuß und macht sich zum Moabiterkönig Eglon auf.

Durch die akribischen Kontrollen der königlichen Leibgarde schlüpft er nur deshalb, weil die - offensichtlich rechtshändigen - Wachen nur sein linkes Bein abtasten, wo ein rechtshändiger Attentäter seine Stechutensilien verstecken würde.

So kann Volksheld Ehud den verhaßten König Eglon während der Audienz beherzt niederstechen - mit seiner Linken, versteht sich.

Rechts: "männlich, hell, gut", links: "weiblich, dunkel, schlecht"

Doch waren es wohl kaum diese Stories, aus der die Tanten ihre Überzeugung entwickelten, die linke Hand könne nur des Teufels sein. Derlei Folkore ist wohl eher der Liebe zur Weisheit eines Pythagoras zu verdanken, der im 6. Jahrhundert vor Christus eine 'Tafel der Gegensätze' erdachte.

Hier finden sich auf der einen Seite Attribute wie 'männlich, hell, gut, warm, gerade, rechts', und auf der anderen Seite stehen 'weiblich, dunkel, schlecht, kalt, krumm'. Und eben auch 'links'.

Alles Gestörte. Überall.

Hooligans AP

Randalierende Fußball-Fans: Umgelernte Linkshänder?

(Foto: Foto: AP)

Vielleicht wäre über diese philosophischen Ergüsse eines patriarchalischen Denkers, den bereits Zeitgenosse Heraklit den 'Ahnherrn aller Schwindeleien' nannte, früher oder später Gras gewachsen.

Irgendwie landeten seine dualistischen Spinnereien aber dann in der 'Metaphysik' des angesehenen Aristoteles und hielten später über Kirchenvater Augustinus Einzug in das Christentum. Ihm zufolge galt für alle Tätigkeiten des geistigen Lebens: Rechts vor Links! Den befleckten linken Fingerkuppen war alles Irdische vorbehalten - sie gehörten zu der minderwertigen 'weiblichen Hand'.

Mit der Linken wird der Hintern gewischt

Der eigentliche Grund, weshalb große Denker 'links' und 'schlecht' in einem Atemzug nannten, wird wohl von erbarmungslos profaner Natur gewesen sein: Noch heute kommen in den heißen, wasserarmen Regionen der Erde der linken und der rechten Hand aus hygienischen Gründen unterschiedliche Funktionen zu.

Während das Essen, Schreiben und Händeschütteln traditionsgemäß der rechten Hand vorbehalten ist, benutzt man die linke für 'unreine Tätigkeiten' wie der Säuberung des Hinterns oder der Verrichtung sexueller Handlungen. Links war früher unrein, schlecht, tabu - und ist es offenbar noch heute.

In der islamischen Kultur wird Kindern, die mit der linken Hand essen, aus pädagogischen Gründen der Arm kurz in brodelndes Fett gehalten, berichtet Psychologin Sattler. In Japan kann ein Mann angeblich seine Frau verstoßen, wenn er erst nach der Heirat ihre Linkshändigkeit entdeckt.

Der afrikanische Stamm der Wa Chaggas schließt linkshändige Männer von der Jagd- und Kriegsführung aus, weil sie angeblich Unglück bringen. Und in unseren Breitengraden?

"Schludriane und Stümper"

Noch 1937 charakterisierte der englische Kinder-'Psychologe' Cyril Burt Linkshänder auf wenig schmeichelhafte Weise:

'Sie schielen, sie stottern, sie schlurfen und stolpern, sie zappeln wie die Seehunde auf dem Trockenen. Sie sind schwerfällig bei der Hausarbeit und ungeschickt beim Spiel - Schludriane und Stümper auf der ganzen Linie.'

O sancta simplicitas! Wir, die wir selber als praktizierende (nicht umgeschulte!) Linkshänder unser Leben bestreiten, dürfen dem Leser - sozusagen aus erster Hand - von weiteren Diffamierungskampagnen berichten: 'Guckt euch mal diesen Jungen an', hören wir unseren Musiklehrer vor der kichernden Klasse sagen. 'Ist der nicht blöd? Der verschmiert sich doch alles.'

Noch auf der Uni wurden wir nach jeder Vorlesung auf die tintenblauen Schleifspuren an unserer Handkante hingewiesen. Wir waren gebrandmarkt. Verstoßen. Wenn man uns auch nicht den Arm in Öl tauchte. Bei Vorstellungsgesprächen tauchte die Frage auf: 'Stört es Sie nicht, daß Linkshänder der Statistik zufolge neun Jahre früher sterben?' - Na und? (Journalisten sterben sowieso viel früher, laut Statistik.)

Immerhin: Besser als bekennender Linkshänder einmal mehr dem Vorurteil des allgemeinen Ungeschicks ausgeliefert, denn als vermeintlicher Rechtshänder in seinen Gehirnhemisphären permanent durcheinandergebracht, wie es uns die Sattler-Studie offenlegt.

Keine Angst vor schlagenden Ruprechts!

Daher: Keine Angst vor schlagenden Ruprechts! Auch gegenüber Tante Elke könnt Ihr Euch auf zahlreiche angesehene Stammesgenossen berufen: da Vinci, Beethoven, Schumann, Picasso, Charlie Chaplin, Albert Einstein, Jimi Hendrix und Königin Elizabeth II. gehören zu unserer Zunft. (Jack The Ripper und den Würger von Boston nennen wir nur ungern.)

Zudem unterschreiben vier der letzten fünf amerikanischen Präsidenten - Ford, Reagan, Bush, Clinton - ihre Verträge mit der linken Hand. Und wenn sich Königinnen und Präsidenten ihrer Linken bedienen - weshalb sollte es nicht irgendwann dem gesamten 50-Prozent-Anteil der Menschheit gestattet sein?

Das 'Phänomen Linkshändigkeit' ist momentan wieder in aller Hirne. Spätestens seit der deutschen Veröffentlichung von Rik Smits populär-wissenschaftlichem Buch 'Alles mit der linken Hand' im vergangenen Jahr, fragen sich viele nägelkauende Rechthaber, ob sie nicht vielleicht auch verhinderte . . .

Schon jetzt sehen wir einen Silberstreifen am Horizont: Der Linkshänderanteil an den bayerischen Grundschulen liegt in letzter Zeit häufig schon bei 20 bis 30 Prozent. Alte Werte verblassen. Tabus lösen sich auf. Welcome to tomorrow.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: