Die Geschichte des Skandals:Man entführe den Papst

Wie macht man einen Skandal? Ein Handbuch untersucht Eskalationsstrategien in der Literatur und die Mentalitätsgeschichte öffentlicher Wallungen.

Florian Kessler

Gutes Zündeln bedarf guter Planung. Als Filippo Tommaso Marinetti im Februar 1909 das Gründungsmanifest des italienischen Futurismus veröffentlichte, wählte er dafür nicht einfach irgendeinen Publikationsort, sondern kaufte kurzerhand die erste Seite der Tageszeitung Le Figaro: "Wir wollen den Krieg verherrlichen, einzige Hygiene der Welt, den Militarismus, Patriotismus, den Befreiungsgestus der Freigeister, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung der Frau", schmetterte er seine Botschaft öffentlichkeitsträchtig in die Welt hinaus.

schrecken skandal

Erschreckt? Könnte an der rechten Lektüre liegen.

(Foto: Foto: oh)

Um die Details der Botschaft ging es dabei höchstens in zweiter Linie. In dem von den Literaturwissenschaftlern Johann Holzner und Stefan Neuhaus herausgegebenen Handbuch "Literatur als Skandal" ist Marinetti nur einer von zahlreichen Protagonisten , die ihre Meinungen zu öffentlichkeitswirksamen Slogans zuspitzten und so auf den Eklat spekulierten.

Literaturskandale hat es schon immer gegeben, erst in der Moderne aber wurden sie zum grundlegenden Prinzip literarischer Innovation. In einer instruktiven Einleitung zum Band stellt der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin dieses auf den ersten Blick befremdliche Prinzip in seine Kontexte:

Von Aristoteles ausgehend galt ja in Deutschland bis tief in das 18. Jahrhundert hinein das Erfüllen von Regelpoetiken als Ziel gelingender schriftstellerischer Arbeit, skandalös waren nur ästhetische Ausrutscher und handwerklicher Pfusch. Genau diese Verstöße gegen die Konventionen aber kultivierte die Moderne. Plötzlich war der Regelbruch das konstitutive Element gelingender Kunstwerke, "zugespitzt", schreibt Ladenthin, "kann man behaupten, dass die Literatur der Moderne schlechthin Skandal ist".

Für die Eskalationsstrategien der frühen Avantgarden des 20. Jahrhunderts stimmt das uneingeschränkt, Futuristen und Dadaisten machten Ernst mit dem prinzipiell bezweckten Tabubruch. Ihr kühl strategischer Einsatz moderner Kommunikationstechniken und neuer literarischer Medien war nicht mehr kompatibel zum innerlichen Künstler-Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts.

Den Künstlern waren endgültig die Massenmedien bewusst geworden, von ihren aggressiven Versuchen aus entfaltet sich die Kunst des 20. Jahrhunderts als ständig vorsätzliche Inszenierung des Skandalträchtigen. Zum Skandal als einem "öffentlichen Ärgernis" aber gehört mehr als nur der Inszenierungswille des Künstlers. Daran, was der Öffentlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt als skandalös erscheint und was von den Medien zum Skandal gestempelt wird, lässt sich quer durch die Geschichte die Entwicklung des gesellschaftlichen Normensystems nachvollziehen. Mit seinen über fünfzig Einzelaufsätzen präsentiert das Handbuch so nicht weniger als eine Mentalitätsgeschichte öffentlicher Wallungen.

Vom durch die Germanistik des 19. Jahrhunderts als unsittlich beleumundeten "Tristan" Gottfried von Straßburgs bis hin zu den ganz unterschiedlich gelagerten Debatten um Martin Walser, Peter Handke und Günter Grass in diesen Jahren wird von Fall zu Fall nachgestellt, wie die Gesellschaft ihre eigenen Wertmaßstäbe anhand der Erregung durch Skandale neu justierte - oder wenigstens hätte neu justieren können.

Zündeln, aber richtig

Mehrfach nämlich werden als weiterer Wendepunkt der Geschichte der Literaturskandale die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts ausgemacht. Ungefähr ab dem sogenannten "deutsch-deutschen Literaturstreit" um Christa Wolfs Erzählung "Was bleibt" reagierten die Medien in vielen Fällen höchstens noch untergründig auf ästhetische Provokationen und klopften stattdessen Autoren und Autoren-Nimbus vor allem auf ideologische Gesichtspunkte ab. Literarische Texte wurden immer offensichtlicher für politische Grenzziehungen instrumentalisiert - mit dieser Abkopplung aber machten die Skandale der Gegenwart nur wahr, was schon immer in ihnen angelegt war.

Die Fallgeschichten der letzten Jahre erschrecken so zwar teilweise durch die Übergriffigkeit der durch die Medien geprägten öffentlichen Meinung, der die Literaturwissenschaftler des Bandes ihre genaueren Textlektüren entgegenhalten. Auf der anderen Seite aber gibt es auch vergnüglichere Schilderungen von Autorenversuchen, selbständig einen Skandal zu erzeugen oder zu steuern - so etwa im Fall von Thor Kunkels Nazitrash-Roman "Endstufe" oder Thomas Glavinics Kriminalroman "Der Kameramörder", der mit süffig zusammengebrauter Medienschelte und Kindsmord alle Ingredienzien zum handfesten Skandal enthielt, diesen aber partout nicht auslösen konnte.

Überhaupt durchzieht die Frage nach den Gründen für das Zustandekommen gesellschaftlicher Aufregungen das gesamte Handbuch. Futuristen-Vater Marinetti etwa sorgte zwar mit seinem Gründungsmanifest im Figaro für das gewünschte Aufsehen. Sein 1914 in italienischer Übersetzung veröffentlichter Roman "Das Flugzeug des Papstes" aber, in dem immerhin das Oberhaupt der katholischen Kirche aus Rom entführt und an ein Flugzeug gekettet während des Fluges immer wieder beschimpft wird, sorgte dagegen für erstaunlich wenig Aufruhr. In seiner Einleitung führt Volker Ladenthin solche verwunderlichen Leerstellen auf die "repressive Toleranz" der Öffentlichkeit zurück:

Um Thomas Manns "Zauberberg" etwa habe es keinen Skandal gegeben, obwohl die durchgängige Ironie des Textes ein harscher Affront gegen die Wissenschaftsgläubigkeit der Moderne gewesen sei. Eigentlich, schreibt Ladenthin, sei dieser Nichtskandal schlichtweg skandalös - und als Ergänzung zu diesem gelungenen Band wünscht man sich da fast schon eine Literaturgeschichte der leider ausgebliebenen Skandale.

STEFAN NEUHAUS, JOHANN HOLZNER (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle - Funktionen - Folgen. Vandenhoeck& Ruprecht, Göttingen 2007. 735 Seiten, 72,90 Euro.

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