Die Geschichte des Plastik-Pop:Viel besser als echt

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Man nennt es Bubblegum, und es ist die Küchenschabe der Pop-Musik. Seit nunmehr fünfzig Jahren beherrscht dieser Urschleim ungeniert die Hitparaden der Welt.

NICK BROWNLEE

Wie er sich aufblasen lässt! Wie unglaublich süß er ist! Ein paar Minuten pures Vergnügen. Doch dann schmeckt er fad. Man spuckt ihn aus, passt nicht auf und schon klebt er einem an der Schuhsohle. Der Kaugummi. Bubblegum. Es gibt kaum ein Wort, das industriell gefertigten Teenie-Pop besser beschreibt.

Wer erinnert sich denn noch an Frankie Avalon, Tommy Steele, Herman's Hermits, The Crystals, die Osmonds, Middle of the Road, die Glitter Band, Dollar, Bow Wow Wow, Kajagooogoo, MC Hammer, Bucks Fizz, Bros oder - für Zeitgenossen mit extrem kurzer Aufmerksamkeitsspanne - den Dings, der bei uns "Deutschland sucht den Superstar" gewonnen hat? Nun, einer muss es ja machen und sein Name ist Nick Brownlee. Bei wem sein Streifzug durch die knallbunte und oft genug knalldoofe Welt des Plastik-Pop unstillbares Verlangen nach einem ganz bestimmten Song auslöst, den man gottseidank vollständig vergessen hat, der muss sich das gnädigerweise dünne und charmant-oberflächliche Buch "Bubblegum - The History of Plastic Pop" (Sanctuary Publishing, London 2003, circa 17,50 Euro) besorgen und eintauchen in die klebrige Masse wie weiland Louis de Funès. / bru (Foto: Foto: Sanctuary)

Bereits in den fünfziger Jahren wusste man im Musikgeschäft, dass auf Bubblegum unbedingter Verlass ist; Milliarden hat man seither mit Bubblegum verdient, sei es an der Musik, sei es an Merchandising-Artikeln.

Seine Interpreten würden Bände füllen, dick wie das Telefonbuch, die zugehörigen Nummer-Eins-Singles eine Liste von hier bis zum Mond ergeben.

Wie die Küchenschabe hat Bubblegum all die großen zyklischen Umwälzungen der Popmusik unbeschadet überstanden, was man von so manchem Rock-Dinosaurier nicht behaupten kann.

Bubblegum wird seit fünfzig Jahren immer anders und immer wieder neu verpackt und vermarktet, aber sein Erfolgsrezept ist im Großen und Ganzen gleich geblieben: Man nehme eine Unschuld vom Lande und lasse sie von einem in allen Fisimatenten des Popgeschäfts bewanderten Schurken in ein schnuckeliges Produkt verwandeln, für das sich seltsamerweise allezeit und immerdar Käufer finden lassen.

Man bedenke, dass man sich beeilen muss beim Kassieren, da diese Art Karriere im Erfolgsfall keinesfalls länger als 18 Monate dauern wird. Dann schnell die Finger weg davon. In fünf Jahren wird mancher noch mit einem Seufzer an die Bubblegum-Blase seiner Wahl denken. In zehn Jahren erinnert sich kein Mensch mehr an sie.

Und weil dem so ist, wird auch die Welt in fünfzig Jahren trotz aller radikalen Geschmacksveränderungen ihren Bubblegum besitzen, erfolgreich und bedeutungslos.

Der Begriff "Bubblegum" stammt eigentlich aus den Sechzigern, aber das Phänomen entstand bereits zehn Jahre früher.

Die Unterhaltungsmusik auf beiden Seiten des Atlantiks befand sich in einem katatonischen Zustand, hervorgebracht von so elend respektablen Schnulzeusen und Schnulzeuren wie Frank Sinatra, Rosemary Clooney, Doris Day oder Guy Mitchell.

Bis Rock'n'Roll kam. Diese Musik hatte vielleicht schwarze Wurzeln und alles, aber erst gerissene Geschäftemacher wie Colonel Tom Parker oder Larry Parnes machten aus einer Außenseiterangelegenheit die Musik einer Generation - und die Teenies konnten gar nicht mehr genug davon kriegen.

Drei Jahre nach Bill Haleys "Rock Around the Clock" waren die Hitparaden Amerikas und Europas nicht wieder zu erkennen. Elvis Presley, Billy Fury, Gene Vincent, Fabian und Marty Wilde hatten aufgeräumt mit den verknöcherten Omas und Opas, weil sie mehr Drama und Energie in drei Minuten unterbrachten als ein Sinatra-Klon in dreißig Jahren abzuliefern im Stande war.

Den Stars von gestern blieb nur der Trost, dass 99 Prozent des jungen Gemüses in ein, zwei Jahren wieder weg sein würde vom Markt. Doch Pustekuchen: Ging einem der jungen Performer die Luft aus, rissen schon fünf andere den Schnabel weit auf. Und singen können sie auch nicht, tönte die alte Garde. Doch wen interessierte das? Sicherlich nicht die Teenager, die in nie gekannter Anzahl loszogen, um jeden Ton ihrer Lieblinge zu erwerben.

Es war und ist so einfach, sich für Bubblegum zu gut zu sein, aber die Musikindustrie war gezwungen, ihre Lektion zu lernen und über den einen oder anderen Schatten zu springen: Schließlich verdanken selbst so legendäre Gruppen wie die Beatles oder die Rolling Stones ihre Anfangserfolge ja nicht dem Genius ihrer Songwriter Lennon/McCartney oder Jagger/Richards, sondern den cleveren Marketingstrategien ihrer Manager Brian Epstein und Andrew Loog Oldham.

Epstein verwandelte seine in Leder gekleideten Möchtegern-Presleys in vier liebenswerte Pilzköpfe, yeah yeah yeah, während Oldham den umgekehrten Weg ging und aus ein paar wohlerzogenen Mittelschichtkindern, die ein ernsthaftes Interesse an Rhythm'n'Blues hatten, die bösen Buben des Rock machte. "Die noch kurze Geschichte der Popmusik hat es uns ja genau gelehrt", erinnert sich Oldham. "Elvis versus Pat Boone.

Bing Crosby versus Frank Sinatra. Es ist immer diese Schund-oder-Kunst-Kiste, in der die Jugend nach genau den Rollenmodellen wühlt, mit deren Hilfe sie ihren Eltern zeigen will, wie sie sich ihr Leben vorstellt." Doch in Sachen Herstellung und Vermarktung eines Trends waren selbst Oldham und Epstein Waisenknaben verglichen mit einem Berry Gordy Jr., der das Motown-Konzept ersann und in derselben Hitpresse die Velvelettes, die Vandellas oder die Supremes formte, denen Songs von Profis wie Lamont Dozier auf den Leib geschrieben und von begnadeten Hausproduzenten in Sound gewordene Zeitgeschichte umgewandelt wurden.

Die Methodik, mit der der Jugendmarkt gemolken werden konnte, blieb auch dem Team Bob Rafelson und Bert Schneider nicht verborgen, die sich vornahmen, die perfekte künstliche Teenagerband zu erschaffen, welche allein über das Medium Fernsehen wirken sollte. Die beiden setzten eine Anzeige auf, wählten vier Bewerber aus, brachten ihnen einige Tanzschritte bei und setzten ihnen lustige Mützen auf den Kopf, und fertig waren die Monkees, deren erste TV-Folge im September 1966 ins Jugendzimmer flimmerte. Monstererfolg.

Noch konsequenter ging Don Kirschner vor, der den Störfaktor Mensch gänzlich eliminierte, als er 1968 noch eins draufsetzte und mit den Archies die erste rein gezeichnete Popband der Geschichte an den Start brachte. Ein Jahr später erschien deren "Sugar Sugar", ein Nummer-Eins-Hit in Amerika und Europa und eine der meistverkauften Singles in der Firmengeschichte von RCA.

Dann kamen die siebziger Jahre und mit ihnen Glamrock, Punk, Disco - aber auch die totale Welteroberung durch Bubblegum. Was auch immer gerade die ernsthaften Pop-Fans bewegte, für monströse Umsätze sorgten die Osmonds, die Bay City Rollers, David Cassidy oder Gary Glitter. Und das alte Europa erkannte, dass es in dieser Liga des süßen Nichts auch gut mithalten konnte: Die holländischen Studiosängerinnen Pussycat hatten 1974 einen Hit mit "Mississippi"; die lustige Punkfälschung Plastic Bertrand bewies, dass zumindest der eine oder andere Belgier Sinn für Humor haben muss; via München setzte der Südtiroler Giorgio Moroder Disco auf die Speisekarte und Frank Farian suchte sich vier karibische Schönmenschen, die er für den Song "Daddy Cool" Boney M nennen konnte - mehr als fünfzig Millionen Platten sollte diese geniale Pop-Fälschung im Lauf der Zeit allein in Europa verkaufen, obwohl sich wohl kaum ein Mensch findet, der die Namen der Gruppenmitglieder nennen könnte.

Farian arbeitete hart daran, den Boney M-Coup ein zweites Mal landen zu können, und als ihm das Ende der Achtziger gelang, hätte er fast die gesamte Bubblegum-Blase zum Platzen gebracht. Rob Pilatus und Fabrice Morvan waren zwei langhaarige Tänzer, die Farian Milli Vanilli nannte, mit Selbstgeschriebenem versorgte und zu den im Studio ohne ihre Beteiligung eingespielten Playbacks mimen ließ. Es hatte ja nicht wirklich jemand damit gerechnet, dass Milli Vanilli 1990 einen Grammy dafür erhalten würden, den ihnen eine beleidigte Musikindustrie wieder wegnahm, als Farian das süße Geheimnis des Duos lüftete. Soviel Bigotterie lehrt uns einiges über die Musikindustrie: Künstliche Gruppen gelten weniger als so genannte "echte" Musiker, auch wenn diese nur ein Zehntel von dem verkaufen wie etwa Milli Vanilli.

Der Milli Vanilli-Skandal erwies sich schließlich doch nur als kleines Bäuerchen und nicht als der große Knall, der das Musik-Business erledigt. Mit Jason Donovan oder Kylie Minogue erlebten wir die Wandlung vom Seifenopernsternchen zum Popstar. Die Spice Girls stellten all ihre Vorgänger mit der Girlpower-Masche in den Schatten.

Tatu hatten als gefälschte Lesben ansehnlichen Erfolg. Und mit den Casting-Shows zu Beginn dieses Jahrtausends begann die Ära jener talentfreien Pubertierenden, die sich im medialen Massenwahn einbilden durften, demnächst selbst ein großer Star werden zu können, wenn sie nur hart genug daran arbeiten würden.

Und weil kein Ende abzusehen ist, muss die Frage, ob künstlich und mit voller Berechnung hergestellter Plastik-Pop seine Berechtigung habe, mit einem begeisterten Ja! beantwortet werden.

Okay, die Musik ist uninspiriert und ihre Interpreten sind Marionetten, aber es hat ja auch nie jemand behauptet, dass es hier um große Kunst geht. Bubblegum-Musik - wie eine Kaugummiblase - gehört allein dem Moment, in dem sie gemacht und geliebt wird. Und wenn wir alle das Talent eines Frank Farian hätten, diesen Moment zu erkennen, wenn wir alle so grandiose Songs schreiben könnten wie Lamont Dozier, wenn wir alle so gut singen könnten wie die kaum bekannten Sänger, die ihr Talent für Milli Vanilli zur Verfügung stellten, dann wären wir auch allesamt wahnsinnig reich und berühmt.

© SZ v. 16.02.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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