Die erste Himmler-Biographie:Das Monster

Weniger antisemitisch als antichristlich: In einer gründlichen Biographie zeigt Peter Longerich, dass der kontrollsüchtige Heinrich Himmler nicht austauschbar war.

Franziska Augstein

Als Deutschland in Schutt und Asche lag, konstatierte Hermann Göring: "Wenigstens zwölf Jahre gut gelebt!" So etwas hätte Heinrich Himmler nie gesagt. Der berief sich auf seine "Anständigkeit". Wie Peter Longerich zeigt, war es eins seiner Lieblingswörter.

Die erste Himmler-Biographie: Heinrich Himmler, 1938.

Heinrich Himmler, 1938.

(Foto: Foto: ap)

Berühmt wurde es durch Himmlers "Posener Rede", die er am 4. Oktober 1943 hielt und in der er den Massenmord so beschrieb: "Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht."

Heuchlerisch und sexuell verklemmt

Erstaunlich ist es, dass ein zutiefst heuchlerischer und sexuell verklemmter Zyniker wie Himmler erst jetzt in einer Biographie geschildert wird. Longerich hat lange an seinem Buch gearbeitet, entsprechend lang ist es geworden, entsprechend sorgfältig ist es ausgefallen. Für alle, die sich nicht nur für Faktengeschichte interessieren, sondern auch für die psychischen Umstände, die einen Menschen zu seinen Taten treiben, muss Himmler eine interessante Figur sein.

Doch was Longerich über Himmlers Kindheit und Jugend zutage fördert, reicht - er selbst stellt es fest - nicht hin, um zu erklären, warum der Reichsführer-SS ein menschliches Monstrum wurde.

Der Vater, ein katholischer Schulleiter in München, war streng und deutschnational, doch wandte er sich seinen Kindern mit durchaus liebevollem Interesse zu. Als der 1900 geborene Heinrich fünf Jahre alt war, kam ein dritter Sohn zur Welt. Von nun an litt er das Schicksal der mittleren Kinder, die im Familiengefüge oft ein bisschen zu kurz kommen. Der Vater hielt die Söhne an, Ferientagebücher zu schreiben und kontrollierte diese dann auch. Die Mutter liebte ihre Kinder und ließ sich vom jungen Heinrich anstandslos Vorhaltungen machen, wenn sie dem Offiziersanwärter nicht ganz so oft in seine Kaserne schrieb, wie er es zu brauchen meinte.

Der gute Sohn

Longerich schreibt in der Bilanz seines Buchs, eine "Auflehnung gegen den strengen Vater" sei nicht wahrnehmbar gewesen. Vielleicht war es aber nicht Auflehnung, was Himmler bewegte, vielleicht wollte er seinem Vater, dem autoritären Schulleiter, beweisen, dass er ein guter Sohn war und auch erfolgreich sein konnte? Dafür spräche immerhin, dass Vater Himmler seinen Sohn in den zwanziger Jahren zu einigen Veranstaltungen der NSDAP begleitete und ihn dann für seine Karriere in der SS bewunderte.

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde der Teenager Offiziersanwärter. Ins Feld schickte man ihn nicht. Longerich spekuliert: Er möge den Vorgesetzten nicht reif genug erschienen sein. Nach dem Krieg, mit neunzehn Jahren, verliebte Himmler sich hier und da, wurde aber nicht erhört. Anhand der Lektüreerlebnisse, die der gescheiterte Offiziersanwärter minutiös in seinem Tagebuch festhielt, schildert Longerich die Entwicklung zu einem der martialischen, bindungsunfähigen Jungmänner, die Klaus Theweleit in seinem Buch "Männerphantasien" dargestellt hat.

Arbeitsloser Agronom

Zu dieser Entwicklung passt auch, dass Himmler sein Studentendasein 1922 aufgeben musste, weil der Vater ihn im Gefolge der anhebenden Wirtschaftskrise nicht mehr finanzieren konnte. Himmler stand als arbeitsloser Agronom auf der Straße. Sein "Entschluss", sich ganz der Parteiarbeit der NSDAP zu widmen, war auch aus der Not geboren.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie Himmler Befugnisse an sich raffte, wo er nur konnte.

Das Monster

Vor Frauen hatte er mittlerweile so viel Angst, dass er das Phantasma entwickelte, ohnedies nicht heiraten zu können, weil er im nächsten Krieg viele Jahre lang im Osten für das Reich streiten werde. In all dem, so Longerich, sei er nicht der Einzige gewesen. Heraus stach er allenfalls durch die fatale Neigung, sich in die privaten Dinge anderer einzumischen. 1928 heiratete er dann doch. Ganz im Einklang mit den Theorien Klaus Theweleits ehelichte er eine Krankenschwester.

Das mystisch-germanische Ideengut, das Himmler auflas, verdrängte zunehmend den anerzogenen Katholizismus. Seine Ideologie sei weniger antisemitisch gewesen, schreibt Longerich, als vielmehr antichristlich. Dem Kontrollwahn, dem er schon als junger Mann frönte, konnte er als Reichsführer-SS von 1929 an freien Lauf lassen. Angeblich um die rassische Reinheit der SS zu erhalten, mussten die Angehörigen der Schutzstaffel von 1932 an seine Erlaubnis einholen, wenn sie heiraten wollten. Jedes Detail interessierte ihn.

So ließ er einem Werner K. eine Ordre zukommen: Der Mann solle seiner Braut "nahe legen, ihre Augenbrauen noch weiter herunterzuziehen, um einen größeren Schönheitsgrad... zu erzielen". Bei anderer Gelegenheit erklärte er: "Ich wünsche nicht, dass SS-Frauen sich schminken und angeschmiert herumlaufen."

Seine Art, sich seine Untergebenen "durch eine Mischung aus disziplinierender Strenge, fürsorglichem Gestus und dem Anschein persönlichen Vertrauens gefügig zu machen", schreibt Longerich, sei bei den verkrachten Existenzen, deren es in den dreißiger Jahren viele gab, erfolgreich gewesen.

Übersteigertes Kontrollbedürfnis

Büroarbeit war Himmlers Sache nicht, er ließ sich lieber durch die Gegend fahren und regierte ad hoc, unberechenbar. Longerich spricht ihm dennoch organisatorisches Talent zu. Hinzu kam, dass Himmler Befugnisse an sich raffte, wo er nur konnte: Im Lauf der Jahre brachte der Reichsführer-SS die gesamten Polizeikräfte unter seine Kontrolle. Im Hinblick auf die Siedlungspläne im Osten verdrängte er 1939 seinen Konkurrenten Walter Darré. Er war der Oberaufseher der Konzentrationslager, der Chef der Vernichtungspolitik. Seine SS sollte nicht nur ein Monopol über die Mineralwasserproduktion haben, sondern suchte auch, mittels ihrer KZ-Betriebe in die Rüstungsindustrie einzusteigen. 1943 wurde er zusätzlich zum Reichsinnenminister bestellt. Er riss sich die Aufsicht über den Wehrmachtsstrafvollzug unter den Nagel, war "Sonderbeauftragter aller Fragen des Pflanzenkautschuks" und bewies 1944 als Chef der Heeresgruppe Weichsel, dass er ein miserabler Militär war. Überhaupt misslang ihm vieles - nur eins nicht:

"Je mehr das Dritte Reich seinem Untergang entgegenging", so Longerich, "desto mächtiger wurde der Reichsführer-SS." Das führt Longerich darauf zurück, dass Himmler sich bei allen größeren Entscheidungen die Rückendeckung Hitlers holte.

Niemand konnte Himmler an den Karren fahren. Je mehr er sein übersteigertes Kontrollbedürfnis ausleben konnte, desto mehr steigerte er sich da hinein - später auch ohne Rücksicht auf das nahende Kriegsende. Man kann wohl sagen, dass Himmler bei der Entwicklung der Mordmaschinerien des NS-Reichs von großer Bedeutung und nicht ohne weiteres ersetzbar war.

Als gewissenhafter Historiker wagt Longerich sich auf das Terrain der psychologischen Deutung nicht allzu weit vor. So lässt er die Frage, inwieweit Himmler feste Glaubenssätze hatte, offen. Mal scheint es so zu sein, dann wieder nicht. In bunten Farben und nicht ohne Ironie beschreibt Longerich, wie Himmler, wo es geboten war, seine eigenen Anweisungen nicht mehr ganz ernst nahm.

Die Pflicht zum außerehelichen Kind

Zudem hat der Autor zwei bemerkenswerte Koinzidenzen entdeckt: Nachdem Himmler sich in seine Privatsekretärin verknallt hatte, erließ er 1939 einen Ukas, demzufolge es vaterländische Pflicht der Soldaten war, außereheliche Kinder zu zeugen. Er selbst ging mit gutem Beispiel voran und machte seiner Sekretärin ein Kind. Und nachdem Reinhard Heydrich, der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, 1942 bei einem Anschlag getötet worden war, verschärfte Himmler die Verfolgung der Juden.

Nicht seine Eltern, nicht seine zwei Frauen und auch nicht die Tochter, die er mit seiner Sekretärin zeugte, haben ihn für seine Untaten je kritisiert. Trotzdem war sein Ende kläglich. Ein allzu später Versuch, sich mit den Briten zu verständigen, scheiterte. Hitler war in seinen letzten Tagen nicht mehr gut auf ihn zu sprechen. Nach seiner Inhaftierung entzog Himmler sich der Anklage durch Selbstmord. Sogar unter seinen ehemaligen Anhängern, schreibt Longerich, sei sein postumer Ruf "vorwiegend negativ" gewesen.

PETER LONGERICH: Heinrich Himmler. Biographie. Siedler Verlag, München 2008. 1035 Seiten, 39, 95 Euro.

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