Die Bilder des Filmemachers Ulrich Seidl:Menschen ungeschminkt in ihrer Physis

Harte Themen, vulgäre Motive und ästhetische Bilder: Die "Paradies"-Trilogie von Österreichs "Enfant terrible" Ulrich Seidl kommt in den nächsten Wochen vollständig in die Kinos. Ein neuer Bildband präsentiert schon jetzt Motive aus allen drei Filmen, die veranschaulichen, wie Seidl das Medium Film zur Fotografie zurückführt - indem er Tabus bricht.

Von Paul Katzenberger

12 Bilder

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Quelle: Ulrich Seidl

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Harte Themen, vulgäre Motive und ästhetische Bilder: Die "Paradies"-Trilogie von Österreichs "Enfant terrible" Ulrich Seidl kommt in den nächsten Wochen vollständig in die Kinos. In dem neuen Bildband "Paradies: Liebe, Glaube, Hoffnung" präsentieren die Herausgeber Claus Philipp und Astrid Wolfig schon jetzt Motive aus allen drei Filmen, die veranschaulichen, wie Seidl das Medium Film zur Fotografie zurückführt. Langjährige Bekannte des Filmemachers wie Marina Abramovic, Josef Bierbichler und Elfriede Jelinek kommen zu Wort.

Sexualität, Spiritualiät und Körperlichkeit - drei Frauen einer Familie suchen ihre tiefsten Sehnsüchte auf verschiedene Weisen zu stillen. Die Mutter als Sextouristin, ihre Schwester als missionierende Katholikin und die Tochter als Teenager in einem Diätcamp.

Mit radikaler Aufgeschlossenheit porträtiert Ulrich Seidl in seiner filmischen Trilogie "Paradies" die Einsamen und Hässlichen, die Außenseiter und Deformierten der Gesellschaft sowie ihre zum Scheitern verurteilten Ausbruchsversuche aus ungleichen Machtspielen, klaustrophischer Enge und sozialen Zwängen.

"Paradies: Liebe", der erste Teil der Trilogie lief bei den Filmfestspielen in Cannes im vergangenen Jahr im Wettbewerb, die Teile zwei und drei, "Paradies: Glaube" und "Paradies: Hoffnung" folgten bei den Festivals in Venedig 2012 und in Berlin 2013 und kommen im Lauf des Jahres in die Kinos. 

Der Film "Liebe" spielt an den Stränden von Kenia, in einem Urlaubsresort, ...  

Aus der Serie "Paradies: Liebe": Eine regelrechte Grenze am Strand trennt weiße Touristen von den armen Einheimischen, die sich von den Gästen ein bisschen Geld erhoffen.

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Quelle: Ulrich Seidl

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... in dem sich die 50-jährige Teresa unter alternde Sex-Touristinnen mischt, um die sinnliche Erfüllung zu bekommen, die sie sich zuhause vergeblich ersehnt.

So sucht sich Teresa einen schwarzen Loverboy und verstrickt sich schnell in eine einseitige Amour fou. In einem schmerzhaften Prozess muss sie erkennen, dass es ihrem Gegenüber nicht im Geringsten um Gefühle geht, sondern allein um ihr Geld. Doch sie wird aus der Erfahrung nicht richtig schlau und schlittert von einer Enttäuschung in die andere: Die Liebe am Strand von Kenia ist ein Geschäft.

Aus der Serie "Paradies: Liebe": Am Strand: Kontaktaufnahme mit der heimischen Bevölkerung.

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Quelle: SZ

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Der Filmemacher Seidl hat einen sehr eigenen Stil: Der Wiener besetzt seine Filme sowohl mit Profi- als auch mit Laiendarstellern und holt aus diesen gemischten Casts großartig realistische Darstellungen heraus.

Dahinter steht ein enormer Aufwand bei der Besetzung der Filme. Das Anforderungsprofil für die Darstellung der Teresa sei beispielsweise beträchtlich gewesen, verrät Seidel in einem Interview, das er für den Bildband über seine Trilogie mit dem Film-Journalisten Claus Philipp führte: "Eine Frau über fünfzig, die nicht dem gängigen Schönheitsideal der heimischen Männerwelt entsprechen sollte, indem sie zum Beispiel übergewichtig ist. Sie musste - wie es bei meiner Methode üblich ist - die Fähigkeit haben, Szenen zu improvisieren, und vor der Kamera authentisch sein. Und dann gab es noch die größte Schwierigkeit: Sie musste bereit sein, sich auch auf schwarze Männer als Liebespartner und nackte Sexszenen einzulassen. Wir haben fast ein Jahr gecastet - Margarethe Tiesel war dann ein Glücksfall."

Die Anstrengungen beim Casting lohnen sich, denn die fiktiven Erzählungen bekommen dadurch den dokumentarischen Charakter, der für Seidl-Filme typisch sind. Im Gegensatz dazu .... 

Aus der Serie "Paradies: Liebe": Teresa und der Laiendarsteller Munga (Peter Kazungu) 

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Quelle: Ulrich Seidl

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... ist seine Bildsprache bis zur Künstlichkeit ästhetisch. Seidl arbeitet mit formal verstörenden Mitteln - starre Einstellungen, harte Schnitte, große Distanz. Diese oft epischen Bilder sind formal poetisch-zurückhaltend, was eine zusätzlich Reibung mit den vulgären Motiven erzeugt. Die Bildsprache konzentriert sich in ihrer Reduziertheit und Klarheit auf das Wesentliche der Figuren und seziert so deren Interaktion mit ihrer Umwelt. 

"Natürlichkeit und Form", das sei etwas ganz selten Gewordenes, lobt der Schauspieler Josef Bierbichler im "Paradies"-Bildband und beschreibt sich deswegen als Seidljünger, der seinem Propheten eine künstlerische Nähe zu Ikonen wie Werner Herzog und Herbert Achternbusch bescheinigt. 

Was die Visualisierung angeht, ist das vielleicht ungerecht gegenüber den Bildprofis in Seidls Filmen, von denen bei der "Paradies"-Trilogie mit den Kameramännern Wolfgang Thaler ("Whores' Glory") und Ed Lachman ("Ken Park", "Erin Brokovich") immerhin gleich zwei Autoritäten am Werke waren. Für Seidl sind solche Profis wichtig, seine Ästhetik visuell und technisch umzusetzen.

Aus der Serie "Paradies: Liebe": Teresa nach der Liebesnacht, schlafend wie eine Rubensschönheit.

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Quelle: Ulrich Seidl

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Im Kammerspiel "Glaube" untersucht Seidl, was es bedeutet, das Kreuz auf sich zu nehmen. Für Anna Maria, Röntgenassistentin und Schwester von Teresa, liegt das Paradies bei Jesus. 

Filmzitat aus der Serie "Paradies: Glaube": "Wir sind die Gebetsgruppe Legio Herz Jesu. Wir sind die Speerspitze des Glaubens. Wir sind die Sturmtruppe der Kirche. Himmlischer Jesus, wir schwören dir unsere Liebe. Wir schwören dir unseren Gehorsam. Wir schwören dir, dass Österreich wieder katholisch wird." 

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Quelle: Ulrich Seidl

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Maria Hofstätter, mit der Seidl ein jahrzehntelanges Vertrauensverhältnis verbindet, und die mit ihrer Physiognomie exemplarisch für seine Filme steht, gibt eine Anna Maria, die sich selbst gern nackt kasteit und in Wien mit einer "Wandermuttergottes-Statue" von Haus zu Haus geht und missioniert. Dann kommt ihr an den Rollstuhl gefesselter Ehemann Nabil, ein ägyptischer Moslem (Nabil Saleh), nach zwei Jahren zurück, und im Vorort-Reihenhaus entwickelt sich ein kleiner Religionskrieg.

Aus der Serie "Paradies: Glaube": Die Katholikin Anna Maria und ihr Ehemann, der Moslem Nabil, finden nicht mehr recht zueinander..

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Quelle: SZ

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Für diesen Clash interessiert sich Seidl aber nur vordergründig, im Kern geht es auch in "Paradies: Glaube" um die Sexualität. Nicht nur, dass er Anna Maria mit öffentlichem Gruppensex im Wiener Wertheimsteinpark konfrontiert, nein, er erkennt in ihrem Verhältnis zu Jesus viele Parallelen zum Verhältnis ihrer Schwester zu den kenianischen Loverboys: "Die eine versucht, in Kenia die  (fleischliche) Liebe zu finden, die andere sucht in der geistigen Liebe zu Jesus ihr Glück, den sie aber letztendlich auch wie einen irdischen Mann begehrt", erklärt er im Bildband zur Paradies-Trilogie.

Filmzitat aus der Serie "Paradies: Glaube": Herr, ich bin dein Eigentum, dein ist auch mein Leben; mir zum Heil und dir zum Ruhm hast du mirs gegeben. Väterlich führst du mich auf des Lebens Wegen meinem Ziel entgegen. Herr, ich bin dein Eigentum. Erste Strophe des Ewigkeitslieds von Balthasar Münter (1735 - 1793).

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Quelle: Ulrich Seidl

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Auf theoretischer Ebene sind die Bilder Seidls interessant, weil sie das Medium Film in die Fotografie zurückführen. Denn typisch für seine Filme sind  Standbilder, die während des Films immer wieder für einige Sekunden stehen bleiben. Gerade bei "Glaube" seien alle Bilder im Hause von Anna Maria sehr streng arrangiert worden, erzählt Seidl: "Das eigene Haus ist für Anna Maria und später auch für ihren Ehemann Nabil im gewissen Sinne ihr selbst gewähltes Gefängnis, das entsprechend klaustrophobisch visuell umgesetzt wurde."

Aus der Serie "Paradies: Glaube"

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Quelle: Ulrich Seidl

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Auch der stechend weiße Strand und der durchdringend blaue Himmel in "Liebe" sowie die hängenden Mops-Kinder an der Sprossenwand in "Hoffnung", dem abschließenden Teil der Trilogie (im Bild), sollen eine tiefere Wahrheit vermitteln. Während die Bilder aus Kenia für die vordergründige exotische Freiheit stehen, in der Teresa fälschlicherweise glaubt, ihre Sexualität ausleben zu können, zeigt Seidl die übergewichtigen Kinder in "Hoffnung" in einer Situation der Repression.

Filmzitat aus der Serie "Paradies: Hoffnung": "Wir arbeiten hier mit Disziplin, Freunde. Disziplin ist das Um und Auf für den Erfolg. Im Leben, im Sport und überall anders auch. Wir werden eine Menge Spaß haben, wir werden trainieren, bis die Schwarten krachen und die Kilos purzeln."

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Quelle: Ulrich Seidl

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Hauptprotagonistin in "Hoffnung" ist Melanie (Melanie Lenz), die 13-jährige Tochter Teresas, die gegen ihr Übergewicht kämpft. Während sich die Mutter in Kenia zu vergnügen versucht, wird sie von Tante Anna Maria in ein Diätcamp verfrachtet, das in einem sonst leerstehenden Sport- und Tagungskomplex in den Bergen untergebracht ist. In der kasernenähnlichen Anlage gibt es dann täglich Sport und Disziplin mit anderen dicken Jugendlichen, was eine unerschöpfliche Quelle für die gruselig-komischen Seidl-Tableaus abgibt.   

Aus der Serie "Paradies: Hoffnung"

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Quelle: Ulrich Seidl

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Die Regeln sind streng, Übertretungen werden wie beim Militär bestraft, mit zehn Kniebeugen extra. Nur in unbelauschten Gesprächen können sich die Jugendlichen geben, wie sie sind: Melanie fragt ihre erfahrenere Freundin Verena (Verena Lehbauer) über Oralsex-Praktiken aus, just also als ihre Mutter in Kenia einen bestellten Loverboy vergeblich um einen Cunnilingus bittet. Vom undisziplinierten Körper der Mutter schlägt Seidl so den Bogen über die Selbstdisziplinierung der Tante zur nächsten Generation, die nun von außen diszipliniert wird. 

Doch auch hier lässt sich das Begehren nicht kontrollieren: Melanie verliebt sich in den viel zu alten Camp-Arzt (Joseph Lorenz), einen seinerseits tragikomischen Strizzi, der aber auch um seine Verantwortung als erwachsener Funktionsträger weiß, was ihn sehr ambivalent macht: Sie lauert ihm auf, er bietet ihr spärlich bekleidet die Doktorrolle an und legt sie in einer skurrilen Szene... 

Filmzitat aus der Serie "Paradies: Hoffnung": "Was machen Sie eigentlich, wenn Sie kein Arzt sind? Ich bin immer Arzt. Ja, ich mein privat. Privat? Warum willst du das wissen?"

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Quelle: Ulrich Seidl

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... nach einem Ausreißversuch in betrunkenem Zustand auf eine neblige Waldlichtung und sich dann dazu. Zurück im Internat beendet er jeden weiteren Annäherungsversuch von ihr brüsk, ohne ihr auch nur die Chance zu geben, mit ihm darüber zu reden.

Melanie wird so in aller Unschuld zu dem Opfer, das ihre Mutter und Tante schon seit langem sind. Kann es da noch "Hoffnung" geben?

Am Schluss seiner Trilogie findet Ulrich Seidl also doch nicht zu dem Fazit, dass dem Titel dieses Filmes gerecht wird. Sollte er damit einen vorläufigen Schlusspunkt unter seine jahrelangen Auseinandersetzung mit der Sexualität, Religion, der Diskrepanz zwischen erster, zweiter und dritter Welt sowie den bürgerlichen Normen setzen, wäre das konsequent. Denn nachdem er sich mit diesen Themen schon in einigen Filmen wie "Jesus, du weißt", "Hundstage" oder "Import / Export" auseinander gesetzt hat, produziert er in seinem dreiteiligen Opus magnum zu diesen Sujets noch einmal die gleichen Antworten. Wir warten jetzt ungeduldig auf Seidl-Bilder zu neuen Themen.  

"Ulrich Seidl: Paradies. Liebe Glaube Hoffnung", herausgegeben von Claus Philipp und Astrid Wolfig mit Beiträgen von Josef Bierbichler, Elfriede Jelinek und Ulrich Seidl. Hatje Cantz Verlag, 180 Seiten, 35 Euro.

"Paradies: Liebe" lief am 3. Januar in Deutschland in den Kinos an.  Kino-Start von "Paradies: Glaube" ist am 21. März und von "Paradies: Hoffnung" am 16. Mai 2013.

© Süddeutsche.de/ihe
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