"Die Bibel und ich":"Stellen Sie sich die Frau als Ihre Mutter vor"

Der ungläubige Großstadt-Individualist A. J. Jacobs lebte ein Jahr lang nach der Bibel. Wollust zu vermeiden, war noch die leichteste Übung.

J. Schloemann

A. J. Jacobs sieht einen seiner Nächsten in den Straßen von New York mit einem iPhone von Apple hantieren. Aber er darf das iPhone seines Mitbürgers unter keinen Umständen begehren. Ebensowenig, wie er sein Rind oder seinen Esel begehren darf.

"Die Bibel und ich": Und es wurde Bart: A. J. Jacobs nahm ein Jahr lang die Regeln der Bibel wörtlich.

Und es wurde Bart: A. J. Jacobs nahm ein Jahr lang die Regeln der Bibel wörtlich.

(Foto: Foto: Verlag)

A. J. Jacobs geht mit der festen Absicht in den Central Park, Ehebrecher und Sabbatbrecher zu steinigen. Er bringt es zwar bloß über sich, ein paar leichte Kieselsteine aufzuheben und sie den Sündern auf die Schuhe zu werfen. Aber immerhin.

A. J. Jacobs eröffnet eines Morgens seiner Frau Julie beim Frühstück: "Ich werde den Zehnten entrichten." Julie reagiert besorgt, das Leben in New York ist ja nicht gerade billig, und sie haben doch jetzt auch einen kleinen Sohn . . . Sie einigen sich darauf, dass es wohl in Ordnung ist, die für gute Zwecke zu verwendenden zehn Prozent nicht von seinem Brutto-, sondern von seinem Netto-Einkommen abzuziehen. Um das Geld loszuwerden, verbringt er mehrere Stunden auf der Internet-Seite Charity Navigator: "Das ist so etwas wie der Gault-Millau der Wohltätigkeitsorganisationen."

Zweimal am Tag ist die Harfe dran

Der amerikanische Journalist und Autor A. J. Jacobs hat den Versuch unternommen, ein ganzes Jahr lang nach den Regeln der Bibel zu leben. Nicht etwa nach ausgewählten Regeln oder irgendwie nach dem Geist des Gesetzes. Sondern nach sämtlichen Regeln, auch den seltsamsten. Er lässt seinen Bart ungestutzt (3. Mose 19,27), gibt jeden Morgen einen ordentlichen Schuss Olivenöl in sein Haar (Prediger Salomo 9,8: "Lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln") und trägt ständig ein weißes Gewand. Er bietet seinen Gästen bei der Ankunft in der Wohnung ein Fußbad an und spielt, Psalm 150,3 befolgend, zweimal am Tag auf der zehnsaitigen Harfe.

Dies ist Jacobs' nächstes lebensveränderndes Projekt, nach der vollständigen Lektüre der größten Enzyklopädie der Welt von A bis Z, die vor einigen Jahren in dem Buch "Britannica und ich" mündete. Das jetzt auf Deutsch erschienene Buch "Die Bibel & ich" protokolliert wieder ein existenzielles Experiment. Es ist ein sehr lustiges Buch geworden, zugleich ein aufschlussreiches und in seinem Verzicht auf Häme und Arroganz in seiner Menschenfreundlichkeit ein äußerst sympathisches Buch.

Jacobs startet als ungläubiger, linksliberaler Großstadt-Individualist mit rudimentärer Bibelkenntnis, mit jüdischer Herkunft, aber ohne jede religiöse Erziehung. Er besorgt sich diverse Übersetzungen und Kommentare, liest die Bibel erst einmal durch und schreibt dabei alle Vorschriften in seinen Computer, soweit sie eindeutig Anweisungen an den Gläubigen und nicht metaphorisch gemeint sind.

Am Ende hat er eine Liste von 72 Seiten mit 700 Regeln: "Sie betreffen sämtliche Aspekte meines Lebens - wie ich sprechen, essen, baden, was ich anziehen und wie ich meine Frau umarmen soll." Schnell merkt Jacobs, dass die gleichzeitige Einhaltung aller 700 Regeln praktisch kaum zu leisten ist. Aber er versucht, möglichst viel davon auszuprobieren und die Sache durchzuziehen. Erst einmal zurückgestellt werden die minutiösen Vorschriften des Alten Testaments für Tieropfer, die nach jüdischer Auffassung nur für den zerstörten Jerusalemer Tempel galten. Gott sei Dank, sonst hätte es eine ziemliche Sauerei gegeben.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wann endlich das transzendente Glücksgefühl eintritt.

"Stellen Sie sich die Frau als Ihre Mutter vor"

Aber schon das Einzelne gestaltet sich nicht einfach. So bemüht sich Jacobs ernsthaft um die Vermeidung wollüstiger Gedanken, aber er arbeitet unpraktischerweise bei dem Männermagazin Esquire. Er muss mit zu einer Modenschau, die furchtbar sexy ist - doch er versucht es recht erfolgreich mit zwei Tipps, die ihm Rabbis und Priester gegeben haben. Erster Schritt: "Man redet sich ein, bei der fraglichen Frau ohnehin keine Chancen zu haben." Zweiter Schritt: "Stellen Sie sich die Frau als Ihre Mutter vor."

Kein Bild machen

Jacobs wird Kunde beim Online-Verleih CleanFlicks aus Utah, bei dem man komplett von Sex und Gewalt in Wort und Bild bereinigte Hollywood-Filme bestellen kann; die saubere Fassung von "Kill Bill" erweist sich allerdings als recht sinnfrei. Seine Frau muss übrigens den Fernseher einschalten, er darf sich ja laut Zweitem Gebot kein Bild machen.

Was sind A. J. Jacobs' Absichten bei diesem Vorhaben? Zum einen zu Beginn durchaus eine gewisse Skepsis gegenüber der Aufrichtigkeit eines Amerikas, das gerade durch die republikanische Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin neue Aufmerksamkeit erfährt: "Ich konnte mich des Verdachts nicht erwehren, dass die meisten angeblich bibeltreuen Amerikaner sich nach Gusto aus der Bibel bedienen."

Dieser Verdacht soll erhärtet werden: "Zu diesem Zweck wollte ich zum absoluten Fundamentalisten werden." Zum anderen aber will Jacobs wirklich eine "spirituelle Reise" antreten, will schauen, wie weit ausgerechnet er kommt mit dem Glauben. So wunderbar komisch vieles im Laufe der Erzählung gerät, sein Weg ist dennoch nicht der des Lächerlichmachens, sondern des neugierigen Nachvollzugs.

Man kann es ohne Verlust des Lesevergnügens verraten: Am Ende der zwölf Monate - von denen er jeden einzelnen mit einem Stoß in ein Widderhorn begrüßt hat - stellt der Autor bei sich eine "neuentdeckte Wertschätzung des Lebens" fest, mehr Verständnis für Heiligkeit, Frömmigkeit und Dankbarkeit; und obschon ihm der persönliche Gott, wie er zugeben muss, immer noch einigermaßen unzugänglich erscheint, ist ihm am Ende mit einiger Anstrengung auch ein etwa 10-sekündiges transzendentes Glücksgefühl gelungen.

Es kommt ihm zwar nicht perfekt vor, dass dieser Funken echter Frömmigkeit ihm nicht unversehens geschenkt wurde, sondern eher erzwungen werden musste, er denkt sich aber: "Zuchtlachs ist immer noch besser als gar kein Lachs."

Jacobs weiß natürlich, dass er nicht der erste und einzige ist, der die Bibel buchstäblich zu befolgen sucht. Das ganze orthodoxe Judentum baut ja darauf, und so sind es denn auch oft orthodoxe Juden, auf deren Beratung Jacobs zurückgreift. Etwa, wenn er das Tragen von Mischgewebe (verboten nach 3. Mose 19,19) vermeiden will und einen ultrareligiösen Textil-Tester nach Hause einlädt. Als Jacobs ihn fragt, ob die Befolgung aller Gesetze gleich wichtig sei, muss jener nach einigem Nachdenken "einräumen, dass ein Mord zweifellos stärker zu Buche schlägt als das Tragen eines unkoscheren Blazers".

Der Zugriff des Zweiflers

Der entscheidende Unterschied indes, der dieses Buch spannender macht als eine pure Reportage aus orthodoxen Milieus, ist die Unbefangenheit, mit der Jacobs alle Auslegungs- und Ritualtraditionen, die ganze Geschichte von Theologie und Hermeneutik überspringen kann, weil er sich als Agnostiker in eigener Regie auf die Gesetzesfrömmigkeit einlässt. Dieser direkte Zugriff des Zweiflers macht den Bericht - der uns auf Exkursionen auch zu den Schafhirten in der Negev-Wüste und zur Sekte der Schlangenaufheber in Tennessee führt - so erfrischend und entwaffnend.

Der Autor weiß auch, dass die Mehrheit der Christen die alttestamentarische Werkgerechtigkeit mit ihrem Regelwust für überwunden hält; da jedoch auch viele Christen in den USA gesamtbiblischen Literalismus für sich beanspruchen, ist Jacobs einen Kompromiss eingegangen und folgt acht Monate dem Alten und vier Monate dem Neuen Testament. Jesus als Erlöser zur Freiheit anzunehmen, das will ihm nicht gelingen, aber er besucht Fundamentalisten - wörtlicher Gehorsam ist schließlich sein Leitthema - und verlangt sich so viel Verständnis ab, wie es eben geht.

So ist die ganze Atmosphäre dieses Buches die einer zutiefst amerikanischen Toleranz auch gegenüber den letzten religiösen Spinnern. Diese Toleranz schließt das Recht auf Humor und Satire mit ein und verliert dadurch nichts von ihrer Freundlichkeit. Deshalb ist "Die Bibel & ich" von A. J. Jacobs ein großer Spaß und zugleich jedem zu empfehlen, der meint, in den Kampf der Kulturen einsteigen zu müssen.

A. J. JACOBS: Die Bibel & ich. Von einem, der auszog, das Buch der Bücher wörtlich zu nehmen. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Mohr. Ullstein, Berlin 2008. 418 S., 19,90 Euro.

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