Die Bibel des Punk:Vierzig Jahre Anarchie

DIE "SEX PISTOLS"

Die Sex Pistols lassen den Punk loszischen, Anfang Dezember 1976.

(Foto: DPA)

Kein Musuemsstück! Zur Neuauflage von Jon Savages "England's Dreaming", der Bibel des Punk.

Von Juliane Liebert

Steckt doch noch ein bisschen Punk im Punk? Anlässlich des 40. Geburtstages der Bewegung - gerechnet vom Erscheinungsdatum des Debütalbums "Anarchy in the UK" der Sex Pistols am 26. November 1976 - will Joe Corre seine Punksammlung öffentlich verbrennen. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wäre diese Sammlung nicht 5 Millionen Dollar wert - und er der Sohn der Eltern des Punk, Malcolm McLaren und Vivienne Westwood. "Dass die Queen 2016, dem Jahr des Punk, offiziell ihren Segen gibt, ist das Beängstigendste, was ich je gehört habe", sagte Corre. Statt einer Bewegung, der es um Veränderung gehe, sei "Punk ein verdammtes Museumsstück geworden."

"Ein generelles Unwohlsein hat das britische Volk ergriffen. Die Leute fühlen sich taub."

Im selben Jahr, in dem er das anprangert, wird "England's Dreaming" von Jon Savage in Deutschland neu aufgelegt (Aus dem Englischen von Conny Lösch. Edition Tiamat, Berlin 2016. 544 Seiten, 19,80 Euro). In dem Buch geht es zu großen Teilen um die Geschichte eben jener Eltern, deren Krempel Corre abfackeln will, man nennt es auch: Die Bibel des Punk.

Und es stimmt: "England's Dreaming" hat Gemeinsamkeiten mit der Bibel. Es ist sehr dick, die Schrift ist ziemlich klein auf ziemlich dünnem Papier gedruckt und es ist das Standardwerk seines Metiers - obwohl man einschränken muss, dass Jon Savages Opus besser recherchiert ist als die Bibel und die besseren Pointen hat. Es war Musikbuch des Jahres 1991 und gilt seit Jahrzehnten als "das" Buch zum Thema. Es ist auf ungelenke Art brillant, weil vieles von dem, was es zu sagen hat, weit über Haarfarben und Musikgenres hinausgeht. Wenn man heute von "Punk" spricht, erscheint vor dem geistigen Auge als erstes die Damenabteilung von H&M, aber Punk - zumindest Savages Punk, oft sagen Bücher ja mehr über ihren Autor als über ihr Sujet - ist mehr als ein kulturgeschichtliches Phänomen, und eine unglaublich gute Story noch dazu.

Genau genommen ist es sogar länger als besagte 40 Jahre her, dass Vivienne Westwood und Malcolm McLaren einen Laden namens Let it Rock in der King's Road 430 in London eröffneten. Hier begann alles, hier ist die Eizelle des englischen Punk. Hier stotterte McLaren jene Kids ("Sie hießen alle John") zusammen, die die Sex Pistols sein würden, zwang sie mehr oder weniger in den Proberaum, wo sie mit von Rod Stewart und David Bowie geklauten Instrumenten zu proben begannen. "Nachdem es beschlossene Sache war, eine Band zu gründen, ging Steve Jones im Winter 1972 - 73 methodischer vor. Die nächsten drei Jahre klapperte er die Häuser der angesagten Popstars ab: Diejenigen, die er mochte, beklaute er." Ein Satz, der weit über die Entwendung von Instrumenten hinaus Grundbaustein jeder musikalischen Innovation ist. "In der Welt geht es ums Plagiieren", erklärte Steve Jones. "Wenn man nicht anfängt, Dinge zu sehen und zu klauen, weil sie einen inspirieren, bleibt man dumm." Oder wird es wieder.

Laut Joe Corre ist die Atmosphäre heute ähnlich wie 1976: "Ein generelles Unwohlsein hat das britische Volk ergriffen. Die Leute fühlen sich taub. Und mit der Taubheit kommt die Selbstzufriedenheit. Die Leute glauben nicht mehr, eine Stimme zu haben. Das Gefährlichste ist, dass sie aufgehört haben, für das zu kämpfen, woran sie glauben. Sie haben die Jagd aufgegeben. Wir müssen die ganze Scheiße noch ein weiteres Mal explodieren lassen." Ausgerechnet nach Anleitung der Siebziger?

Was damals nach dem Startschuss so geschah mit der Anarchie, den Sex Pistols und dem Punk Rock, ist bekannt und wurde seitdem oft erzählt, aber selten so minutiös wie von Jon Savage. Punk ist schon lange selbst Pose und Kommerz geworden, aber "England's Dreaming" kann man auch lesen, wenn man sich keine Bohne für Punk interessiert. Savage präsentiert seine Thesen, seine Version der Geschichte Englands in den Siebzigern als unumstößliche Wahrheit, vergleicht schmerzfrei Westwood mit Thatcher, zitiert - nicht von ungefähr - das erste Pop-Gesetz von Andrew Loog Oldham, dem damaligen Manager der Rolling Stones: "Ich glaube, dass es wahr wird, wenn man nur genug lügt." Zumindest für eine Weile galt das für Punk; leider sind das zweite und dritte dieser Pop-Gesetze nicht überliefert, vielleicht hätten sie uns weitergeholfen. Bemerkenswert ist die Dichte an Informationen, Anekdoten, wichtigen und unwichtigen Details; Savage steckt in vier Seiten, woraus andere einen 400 Seiten langen Roman, einen Film und zwei Videospiele machen würden. Der Autor als manischer Sammler, ein Buch, das die Antithese seines Themas ist.

Joe Corre fordert auch andere auf, ihre Punksammlungen am 26. November in Camden zu zerstören. Es ist geraten, England's Dreaming zu verstecken, wenn man seine Lederjacken, selbstbedruckten T-Shirts und Nietengürtel den Flammen übergibt - damit man auch in 20 Jahren noch weiß, warum man das überhaupt getan hat.

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