Deutschland und der Erste Weltkrieg:Vier Jahre, drei Monate, elf Tage

Vor 90 Jahren, am 2.August 1914, begann der Erste Weltkrieg. Eine berühmte These der Wissenschaft lautet: Der Krieg hat die Deutschen brutalisiert. Doch kann sich Gewalt in einem Land wirklich fortpflanzen?

Von Franziska Augstein

Als Otto Graf Lambsdorff in den Zweiten Weltkrieg einrückte, wusste er schon, dass er nicht gesund zurückkehren würde. An sein Überleben habe er geglaubt, hat er später erzählt, aber von Anfang an habe er damit gerechnet, eine schwere Verletzung davonzutragen. Genau so kam es dann auch. Seit dem Krieg geht Lambsdorff am Stock. Seine Intuition war richtig gewesen, woher aber rührte sie? Was war ihr Ursprung? Wie kommt ein junger Mann darauf, dass er aus dem Kampf, in den er zieht, als Versehrter zurückkommen wird?

Deutschland und der Erste Weltkrieg: Bilder eines Krieges: Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die französische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben. 1916 starben dort rund 700.000 Menschen...

Bilder eines Krieges: Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die französische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben. 1916 starben dort rund 700.000 Menschen...

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Lambsdorffs nähere Gründe beiseite gelassen, ist seine Vorahnung doch charakteristisch für seine Generation. Der Krieg fordert seinen Preis: Das war die simple Lehre des Ersten Weltkriegs gewesen. Seitdem taten junge Männer, die realistisch dachten, gut daran, damit zu rechnen, dass sie einen nächsten Krieg nicht heil überstehen würden.

Zerstückelt, nicht einfach nur gestorben

Das lag nicht bloß an der immensen Zahl der Toten, die der Erste Weltkrieg produzierte. Es lag auch an der Art, wie die Männer im Feuer starben. Der Anblick der Leichen lud nicht zum stillen Heldengedenken ein. Der Militärhistoriker Michael Geyer hat das so beschrieben: "Artilleriefeuer sprengte Körper nicht schlechthin in die Luft, sondern zersiebte und zerstückelte sie."

Die Toten sahen anders aus als in früheren Kriegen. In dem zerschossenen Gelände an der Westfront, wo die Erde durch Granateinschläge mitunter mehrmals umgepflügt wurde, kamen immer wieder abgetrennte Hände und Fetzen menschlicher Körper zutage.

Je länger das Gemetzel dauerte, desto weniger erwachsene Männer waren verblieben, die eingezogen werden konnten: Also nahm das Deutsche Reich die Knaben, halbe Kinder von achtzehn oder neunzehn Jahren. Und alle mussten sich darauf gefasst machen, eines baldigen Tages genau so zu enden wie die Soldaten, die sie ersetzten. Die Statistik sprach nicht fürs Überleben. Die Statistik zeigt aber auch, dass die deutschen Truppen sehr gut kämpften. Michael Geyer hat erklärt, warum die Verluste der alliierten Truppen im Schnitt höher waren als die der Deutschen.

Die Gewalt pflanzte sich fort

Der Historiker führt das auf "die neue Art des Krieg-Machens" auf deutscher Seite zurück, die jeden einzelnen Soldaten dazu zwang, im Interesse seines Überlebens ein effizienter "Killer" zu werden, was wiederum nur bei Gefahr der Selbstzerstörung möglich war. "Dass diese Selbstzerstörung in der Vernichtung des Gegners" bestehen konnte, war mit Geyers Worten "nach Meinung gerade auch der Zeitgenossen das Unmenschliche an der Kriegführung." Die Vernichtung des Gegners: Sie wurde nicht mehr metaphorisch-strategisch, sondern wörtlich verstanden.

In der Rückschau auf beide Weltkriege nimmt es sich so aus, als wären die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs im Ersten vorbereitet worden. Mehr noch: Auch die Kämpfe der Weimarer Zeit, die Gewalt auf den Straßen, die republikfeindliche Aggressivität im politischen Leben seien, so wurde gesagt, aus dem Ersten Weltkrieg geboren. Denn - dies die Idee - ist die Gewalt einmal ausgebrochen, so pflanzt sie sich fort. Der Historiker George Mosse schrieb 1990, dieser Krieg habe die deutsche Politik brutalisiert ("Gefallen für das Vaterland", 1993).

Vier Jahre, drei Monate, elf Tage

Die These wurde berühmt: Auf einmal schien es einen neuen Ansatzpunkt zu geben, mittels dessen sich erklären ließ, was so schwer zu verstehen ist: Warum die nationalsozialistische Spielform des Faschismus ausgerechnet in Deutschland so wuchern konnte und warum NS-Deutschland in der Barbarei versank.

Deutschland und der Erste Weltkrieg: ...während Frauen und Kinder stundenlang vor Lebensmittelläden auf Essen warten mussten...

...während Frauen und Kinder stundenlang vor Lebensmittelläden auf Essen warten mussten...

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Für die Stahlnaturen

Demnach wäre die Gewalt zwischen 1914 und 1918 ins deutsche Herz gesetzt worden und hätte sich dort so heimisch gemacht, dass die Deutschen aus lauter Lust am Terror erst ihre Republik zerstörten und dann einen zweiten Krieg begannen: Die Gewalt - eine Frucht aus Deutschland. Und Ernst Jünger ihr Prophet, der die "neuen" Männer beschrieb: "verkörperte Energie ... Stahlnaturen", eingestellt auf "den Kampf in seiner grässlichsten Form".

So ähnlich sahen die Angehörigen der rechten Freikorps es tatsächlich und fanden es heldenhaft, Matthias Erzberger, Walther Rathenau und viele andere hinterrücks zu ermorden. Aufs erste gesehen hat George Mosses These viel für sich. Tatsächlich klingt sie aber besser, als sie ist. Andere europäische Staaten haben in den Jahren nach 1918 auch vielfältige Ausbrüche von Gewalt erlebt. In Italien und Frankreich lieferten linke und rechte Revolutionäre einander Gefechte.

Im Osten Europas litten besonders die Juden nach dem Krieg unter grausamen Pogromen, verübt von ihren eigenen Nachbarn, ganz normalen Dorfbewohnern. Selbst in Großbritannien, wo man sich auf den nationalen Anstand einiges zugute hielt, sah die Regierung sich bald genötigt, politischen Organisationen das Tragen von Uniformen per Gesetz zu verbieten.

Mord und Totschlag überall

Mord und Totschlag fanden nach 1918 überall statt, nicht nur in Deutschland. Und überall war die Rechte gewalttätiger als die Linke. Wie das in verschiedenen europäischen Ländern und Regionen aussah, ist im Journal of Modern European History (Vol. 1, 2003) nachzulesen. Dirk Schumann zieht hier in einem einführenden Aufsatz den Schluss, nach dem Krieg seien nur die "alten Nationalstaaten", Frankreich und Großbritannien also, einigermaßen dagegen gefeit gewesen, dass die Gewalt überhand nahm. Die französischen Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit vertrugen sich schlecht mit dem Hass auf Mitbürger.

Und in England konnte der Terror auf der Straße nicht florieren, weil man stolz darauf war, einer "zivilisierten" Nation anzugehören und also anders zu sein als die aufrührerischen Iren und die barbarischen Kolonialvölker des Empire. Die Deutschen hingegen waren in ihrer großen Mehrheit wohl nicht so aggressiv, wie Mosse es ihnen nachsagt. Schon bei Kriegsausbruch sorgten die Bauern sich mehr um ihre Ernte als um den Ruhm des Vaterlandes. Und viele Arbeiterfamilien dachten nur daran, was es bedeutete, wenn die Männer kein Geld mehr verdienten.

Im Bürgertum und unter den Intellektuellen hingegen fanden sich erstaunlich viele Schreibtischkrieger und Kampfverliebte, die das Blutvergießen gar nicht erwarten konnten. Die gemeinen Soldaten dachten in aller Regel anders. Die sahen ziemlich bald, dass sie in diesem Krieg zuallererst um ihr Leben kämpften, und wenn sie es behielten, dann kümmerte sie die verlorene Ehre des Vaterlandes nicht allzu sehr: So erklären sich die Geschichten von deutschen Veteranen, die erzählten, wie sie in Kriegsgefangenschaft kamen und als erstes den Soldaten der Gegenseite die Hand schütteln wollten.

Die Bayern: waren zu friedlich

Wenn deren Offiziere das unterbanden, dann haben die deutschen Soldaten sich gewundert. Für sie war der Krieg vorbei - warum nicht auch für die anderen? Nach 1918 waren zwar viele Deutsche in Bürgermilizen organisiert, aber das spricht nicht unbedingt für ihren Hang zur Gewalt. Das ländliche Bayern und die Industrieregion Sachsens sind mittlerweile näher untersucht worden: Hier wie dort waren die Milizionäre so friedfertig und passiv, dass sie nach dem Kapp-Putsch 1920 zum Kampf gegen die Linke nicht zu gebrauchen waren.

Wenn der Krieg eine brutalisierende Wirkung hatte, so lässt sich diese weniger an den Affekten der Einzelnen zeigen als vielmehr an der öffentlichen Rhetorik: Diese wurde in der Tat gewalttätiger. Das galt aber nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Staaten. Was die These von der Brutalisierung der deutschen Politik angeht, sind drei Anmerkungen zu machen. Erstens: Die deutschen Eliten haben sich damals unverantwortlicher verhalten als der Rest der Bevölkerung, was beweist, dass auf Eliten nicht immer Verlass ist.

Zweitens: Die Bestialitäten, die im NS-Vernichtungskrieg verübt wurden, lassen sich mit den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs nicht erklären; sie ergaben sich wohl eher aus der Eigendynamik der jeweiligen Situation der Täter und aus dem Rausch, in den Menschen versetzt werden, wenn sie alle Rücksicht auf Kultur, Moral und Menschlichkeit hinter sich gelassen haben. Und deshalb ist, drittens, der bloße Umstand, dass sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg mittlerweile in die Geschichte eingegangen sind, keine Garantie dafür, dass die Grausamkeiten, die in jenen Jahren verübt wurden, nicht abermals geschehen können.

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