Deutscher Alltag:Schon regt man sich auf

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Auf Korfu, dort wo man die Zukunft eher aus der Perspektive der Olivenbäume als aus der des Presseclubs betrachtet, dort geht einem sogar der Sarrazin am Dings vorbei.

Kurt Kister

Oberhalb des Ortes Maleme auf der Insel Kreta ist ein Friedhof. Das Gras ist kurz, die Gräberreihen sind lang. Weil es eine deutsche Kriegsgräberstätte ist, herrscht auf dem Olivenhügel Ordnung, selbst die Grillen scheinen nicht durcheinander, sondern nach Vorschrift zu zirpen. Auf dem einst "Höhe 107" genannten Berglein sind ein paar tausend zumeist ziemlich junge Deutsche begraben, die im Frühling 1941 ihr Leben ließen, weil Kreta ein mittleres Steinchen im großen Plan der deutschen Welteroberung war. Einer der Toten auf dem Hügel heißt Sarrazin. Hauptmann Kurt Sarrazin, am 20. Mai 1941 als Kompaniechef im Fallschirmjäger-Sturmregiment bei Maleme im Gleiter gelandet und getötet.

Auf einem Friedhof auf Kreta liegt ein Hauptmann Kurt Sarrazin begraben. Wäre man ein ordentlicher Journalist, würde man rauskriegen wollen, ob der tote Hauptmann mit dem lebenden Provokateur verwandt ist. Als nachlässiger Spazierenschreiber aber will man das nicht wissen. (Foto: dpa)

Wäre man ein ordentlicher Journalist, gar Mitglied des Netzwerks Recherche, würde man rauskriegen wollen, ob der tote Hauptmann mit dem lebenden Provokateur verwandt ist. Als nachlässiger Spazierenschreiber aber will man das nicht wissen. Da fällt einem zunächst auf, vor allem, wenn man die letzten Wochen in Griechenland war, dass vieles, was hierzulande als GROSSES Thema gilt, auf der Höhe 107 oder in den Gassen von Kerkyra auf Korfu gar nichts ist. Kauft man dort keine Zeitung und bedient keines dieser verwerflichen Mobilgeräte, geht einem Sarrazin, der lebende, ziemlich am Dings vorbei.

Im Hotel gibt es deutsches Fernsehen. Manchmal schaut man ein paar Minuten Morgenmagazin, in dem sich die Moderatoren gegenseitig so lustig finden, dass man, entdeckte man denn einen ihrer Namensvetter auf dem Friedhof von Maleme, nicht darüber nachdenken würde, ob der wohl mit dem Moderator verwandt ist. Allerdings wirkt das Morgenmagazin gelegentlich so, als würde es, wie die Höhe 107, vom verdienstvollen Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge verwaltet.

Später kommt man zurück nach Deutschland, wo die üblichen Verdächtigen lautstark die anderen üblichen Verdächtigen wegen Sarrazin beharken. Man versucht, Sigmar Gabriel zu verstehen, der nach Art seines Gelegenheits-Vorbildes Gerhard Schröder ("wegsperren - und zwar für immer") Sarrazin aus der Partei werfen will. Man möchte Andrea Nahles und selbst Horst Seehofer gelassen begegnen, weil man sich vorgenommen hat, nach den mediterranen Sanftlichtwochen die Dinge in Zukunft eher aus der Perspektive der Olivenbäume als aus der des Presseclubs zu betrachten. Dann aber erfährt man von den Steinbach-Vertriebenen, dass Hitler am 1. September 1939 im Prinzip nur auf die polnische Mobilmachung geantwortet habe. Und schon regt man sich auf. Und der Zustand wird wieder anhalten bis zum nächsten Urlaub. Ach, Kerkyra.

© SZ am Wochenende vom 18.9.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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